Wie Sophus den Siebenhöfeweg besucht

Natürlich gibt es, wie überall wo es Zauberer gibt, auch in Wernigerode Gegenden, die für die der Magie nicht mächtigen nicht zugänglich sind. Wie Sophus einen Schulkameraden wiedertrifft und wie er aus der "Bild der Magie" erfährt, dass Aronia Grünberg in Ungnade gefallen ist, lesen Sie hier ...

Am nächsten Tag erschien Sophus wieder auf Arbeit und reparierte Besen. Auf Nachfragen seines Meisters, wie es zu seinem Unfall gekommen war, gab er ausweichende Antworten.

„Da steckt ein Rock hinter“, sagte der alte Mann mit meckernder Stimme. „Steckt immer ein Rock hinter, wenn Männer verrücktspielen.“ Aber er fragte nicht wieder nach.

In den ersten Tagen nach seiner Genesung nahm Sophus Kontakt mit dem Veranstalter des Kongresses auf. Er wollte zunächst in Erfahrung bringen, ob er als einfacher Zauberer an der Veranstaltung teilnehmen könnte. Man teilte ihm schriftlich mit, dies sei leider nicht möglich. Die Veranstaltung wende sich an zugelassene Heiler und wäre außerdem ausgebucht. Wütend zerknüllte Sophus das Blatt und warf es in den kalten Kamin.

Anschließend fütterte er die Eule, die den Brief abgeliefert hatte. Dabei sagte er sich immer wieder, er würde dennoch nach Dresden reisen, wenn es so weit war.

Auch ein anderes Problem beschäftige Sophus zunehmend. Er wollte Lyra wiedersehen. Da er einen erneuten Ausflug zur Heilerstation für nicht sehr sinnvoll hielt, musste er in Erfahrung bringen, wo sie wohnte.

Sie war eine Heilerin. Sie musste einen Anschluss an das Flohnetzwerk haben. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie ihre Adresse gesperrt hatte, aber das war nicht üblich.

Womit er nicht gerechnet hatte, war die Tatsache, dass man beim Flohnetzwerk nicht bereit war, ihm Lyras Adresse zu geben, da er als Straftäter registriert, und von eben der Person angezeigt worden war, deren Anschrift er haben wollte. Er könne die Adresse selbst dann nicht bekommen, wenn er seine Strafe verbüßt hätte, erklärte man kurz und knapp.

Sophus fluchte. Nichts funktionierte wie erhofft. Als Nächstes bemühte er sich um ein Hotelzimmer in Dresden. Wenigstens in diesem Fall gab es keine Probleme.

Die folgenden Tage arbeitete Sophus seine Rückstände auf. Da die Belegschaft der Firma nur aus dem Meister, ihm selbst, einem weiteren Gesellen und zwei Lehrlingen bestand, hatten sich in der Zeit seiner Abwesenheit einige Besen auf seiner Werkbank angesammelt, die auf Reparatur warteten. Bei dem einen oder anderen Modell war es mit einer kurzen Untersuchung und einem schwungvollen „Reparo“ getan, aber oft genug mussten sämtliche Borsten oder der Stiel ausgetauscht werden. Bei zwei Modellen waren die Zauber entladen, die die Flugfähigkeit erzeugten. Hier war eine komplette Erneuerung notwendig. Ein Besen bockte und ruckelte in der Luft wie ein nicht zugerittenes Pferd beim Rodeo. Das Fluggerät war offensichtlich verflucht worden. Das ließ sich zwar genauso beheben wie die anderen Störungen, aber es kostete Zeit.

„Hast du Knallrümpfige Kröter in der Wohnung, oder was?“, fragte sein Meister, als er den vierten Tag hintereinander Überstunden machte.

Sophus zeigte auf seine Werkbank. „Liegt noch zu viel hier rum.“

„Ach, red‘ kein Blech. Das hat dich früher nie interessiert. Ich hab’s ja neulich schon gesagt, dir hat eine Hexe einen Liebestrank ins Bier geträufelt.“

„Stimmt genau“, sagte Sophus. Er wusste, dass er so am wenigsten Widerspruch bei seinem Meister erzeugte. Der würde sich jetzt in seiner Menschenkenntnis sonnen und nicht weiter nachfragen. Dass tatsächlich ein Liebestrank im Spiel war, wusste er schließlich nicht.

„Dann würde ich aber nich‘ hier rumsitzen und Besen streicheln, sondern mich mal auf die Socken machen, um meiner Angebeteten zu gefallen. Blumen, Süßkram und nette Worte sind die idealen Zutaten für einen hundertprozentig legalen Liebestrank. Da kann selbst das Bundesamt nichts gegen sagen.“ Meckerndes Lachen begleitete diese Worte.

„Meine Angebetete ist eine Heilerin. Die stellt höhere Ansprüche. Die will intelligente Gespräche führen.“

Der Meister winkte nur ab. „Ach, Weiber, wenn es drauf ankommt, wollen die alle nur eines – auf deinem Besen reiten. Intelligente Gespräche? Pah!“

„Nein, so eine ist Lyra nicht“, wehrte Sophus ab.

„Tja, dann frage ich mich allerdings, was du von der willst. Du bist Besenbinder, mein Jung‘, kein Studierter. Und für unsereinen ist der Spaß doch das Wichtigste. Ich bin mit meiner Elfriede seit fast dreißig Jahren verheiratet, und wenn wir uns mal gezofft haben, sind wir immer wieder zusammengekommen, weil sie wusste, was für einen Spaß wir gemeinsam haben können – sie, ich und mein Besenstiel. Geistvolle Gespräche mögen eine Zeit lang, ganz nett sein, aber geistloser Sex ist allemal der Kitt, der Mann und Frau zusammenhält. So und jetzt geh. Ich will auch heim.“

Ungeachtet der Meinung seines Meisters beschloss Sophus, sich ein paar Exemplare der Zeitschriften zu kaufen, die er auf der Heilerstation gelesen hatte. Es gab im Mühlental eine abgelegene Seitenstraße, in der ein Zauberer alles für seinen Bedarf bekommen konnte. Nein, es war nicht die Winkelgasse, aber man fand in Wernigerode auch keinen Piccadilly Circus oder Trafalgar Square. Für die Bedürfnisse einer kleinen Harzstadt reichte der Siebenhöfeweg vollkommen aus. Kurz vor dem Eingang zum Wernigeröder Tierpark zweigte ein kleiner Weg nach rechts ab und endete scheinbar an einem verwilderten Grundstück. Auf einem zur Seite geneigten Schild stand „zu verkaufen“. Das „n“ war kaum noch zu erkennen. Jemand hatte „Wer will das?“ darunter geschmiert.

Sophus stellte sich direkt vor das Schild und hoffte, er könne auch ohne Zauberstab den Durchgang öffnen.

 „Konzentration“, so hatte ihr Lehrer in Zauberspruchkunde ihnen immer gepredigt, „ist wichtiger als der Zauberstab. Ihr müsst die Wirklichkeit zwingen, euch zu gehorchen.“

Also konzentrierte sich Sophus mit aller Macht auf das Schild. Er las jedes der Worte darauf langsam und betont von hinten nach vorn.

„Uz nefuakrev rew lliw sad?“ Dann antwortete er auf die Frage mit seinem Namen. Jetzt hätte er eigentlich seinen Stab in der Luft schwenken müssen. Stattdessen wedelte er nur mit dem rechten Arm in der Luft herum und dachte intensiv: ,Geh auf, verdammt, geh auf!‘

„Na, Zauberstab vergessen?“

Sophus fuhr erschrocken zusammen, als er so angesprochen wurde, und wandte sich auf dem Absatz um.

„Hallo, Isidor, lange nicht gesehen“, sagte er dann.

Ausgerechte Isidor Müller musste ihm hier über den Weg laufen, während er ohne Zauberstab Einlass in den Siebenhöfeweg zu erlangen trachtete.

Aus dem Jungen, der an der Zauberschule in den Hohneklippen die schwächeren Mitschüler drangsaliert hatte, war inzwischen ein angesehener Zauberer geworden, der sich auf Sicherheits- und Schutzzauber spezialisiert hatte, die er seinen Mitmenschen verkaufte. Ihn verband dennoch nicht gerade Freundschaft mit Sophus.

Isidor schlug Sophus auf die Schulter. „Da will ich dir mal helfen, mein Guter“, sagte er jovial. Er schob seinen beachtlichen Bauch an ihm vorbei, wiederholte die Prozedur, die Sophus bereits erfolglos durchgeführt hatte, wobei er die Frage mit seinem und dessen Namen beantwortete und schwenkte den Zauberstab. Das Schild glitt mitsamt der Landschaft nach unten in eine unsichtbare Versenkung und gab den Durchgang auf eine belebte Einkaufsstraße frei.

„Da hast du ja Glück, dass ich gerade vorbeigekommen bin, was? Komm schon.“ Er legte einen Arm um Sophus und platzierte eine Hand von der Größe einer Bratpfanne auf dessen Schulter. So schob er ihn in durch das Tor.

„Was treibst du denn so? Immer noch Besenreparatur?“

„Ja“, sagte Sophus ohne sonderliches Interesse ausführlicher zu werden.

„Und immer noch Single?“

„Mmh.“

„Du musst dir mal einen anderen Job suchen, Mann. Als Besenbinder kannst du keine Weiber an Land ziehen. Sieh mich an. Ich habe eine nette, kleine Firma, eine tolle Frau und wohne seit zwei Jahren im eigenen Haus.“

‚Ja, natürlich‘, dachte Sophus. ‚Und du fliegst immer das neueste ‚Nimbus‘-Modell und dein Kessel ist ein Liberman.‘

Kaum waren ihm diese Worte durch den Kopf geschossen, sprach Isidor sie in leicht abgewandelter Form aus.

„Letzte Woche habe ich mir hier den neuesten Liberman gekauft. Ist wirklich ein tolles Teil. Jetzt brauche ich einen neuen Besen. Mein ‚Nimbus 2010‘ blubberte immer so, wenn ich zur Landung ansetzte.“

„Stiel verzogen“, brummte Sophus ganz in Gedanken.

„Hä?“

„Wenn du deinen Besen nicht hier kaufst, sondern bei uns, kannst du das alte Modell in Zahlung geben“, erklärte Sophus. Er wusste aus Erfahrung, dass man den kleinen Schaden ausbessern und den gebrauchten „Nimbus“ wieder verkaufen konnte. Dabei ließ sich ohne Probleme, noch die Hälfte des Neupreises er­zielen.

„Ach, Quatsch.“ Isidor winkte ab. „Ist schon Feuerholz, das Teil.“

Sophus fühlte beinahe körperliche Schmerzen, als er das hören musste.

„Und was treibt dich hierher?“

„Ich will mir ein paar Zeitschriften kaufen.“

„Mit interessanten Bildern von schönen Mädchen?“ Isidor schlug ihm mit einer Pranke auf den Rücken und lachte schallend.

„Nein, eher mit interessanten Texten.“

„Immer noch humorlos, Sophus“, knurrte Isidor.

„Nein, ich habe nur schlecht geschlafen. Danke, dass du mich mit reingenommen hast, aber ab hier komme ich gut allein zurecht.“

„Sag mal, trägst du mir immer noch nach, dass ich dich an der Schule ein paar Mal verdroschen habe. Da waren wir Kinder.“ Isidor schüttelte den Kopf und in seinem Gesicht zeigte sich Enttäuschung. „Das ist beinah zwanzig Jahre her.“

Das stimmte, aber Isidor hatte sich, fand Sophus, nicht wirklich geändert. Er erwies sich auch heute als der grölende Angeber aus seiner Erinnerung. Nur dass er inzwischen andere Möglichkeiten entdeckt hatte, seine Überlegenheit zu demonstrieren als schiere Gewalt.

„Komm mit“, sagte Isidor und legte ihm wieder den Arm um die Schultern. „Wir trinken ein Bier zusammen auf die alten Zeiten. Du erzählst mir, wie es dir seit dem letzten Klassentreffen ergangen ist, und ich leiste auch den Offenbarungseid.“

In Sophus‘ Augen war Isidor der letzte Mensch auf Erden, dem er davon berichten wollte, dass er sich verliebt hatte. Und von seiner aktuellen Lage musste der erst recht nichts wissen. Aber im Augenblick fiel ihm keine gute Ausrede ein, warum er nicht wenigstens ein Bier mit ihm trinken sollte, also begleitete er ihn in die ‚Hexenklause‘ am Ende der Straße.

Am Eingang des Lokals stand ein Werbeaufsteller der „Bild der Magie“. Die ohnehin nicht kleinen Überschriften der Zeitung füllten das gesamte Gesichtsfeld, wenn man sie direkt anblickte.

„Den Besen kannst selbst du nicht wieder richten“, sagte Isidor, der sich, anders als Sophus, nicht abgewandt hatte.

„Welchen Besen?“ Sie betraten gemeinsam in den Gastraum.

„Na, Frau Sauberwisch.“ Isidor setzte sich und schlug mit der flachen Hand auf die Bank. „Komm, setzt dich.“

„Frau Sauberwisch? Nie gehört.“ Sophus nahm Platz und sah Isidor verwirrt an.

„Hast du die Überschriften nicht gelesen?“ Isidors Daumen wies in Richtung Tür. „Draußen am Aufsteller.“

„Nein, das Käseblatt lese ich eigentlich nie.“

„Solltest du aber, sonst bist du nicht auf der Höhe der Zeit. Die Grünberg ist verhaftet worden.“

„Du meinst nicht Aronia Grünberg, oder?“

„Genau die.“ Isidor winkte die Kellnerin herbei.

„Warum sollte man Aronia Grünberg verhaften?“ Sophus sah fassungslos in Isidors fleischiges, leicht gerötetes Gesicht mit der knubbligen Nase und den Aknenarben.

„Sie soll Muggeln Koboldgold angedreht haben. Ausgerechnet Aronia Grünberg und ausgerechnet Muggeln.“ Isidor lachte brüllend auf.

Die Kellnerin trat an ihren Tisch. „Was darf ich Ihnen bringen?“

„Wir fangen mit zwei Bier an“, erklärte Isidor. „Vielleicht bleibst du ja zum Nachtisch.“ Er zwinkerte der Kellnerin zu. Die verdrehte die Augen, wandte sich eilig ab und verschwand.

„Hübscher Käfer“, sagte er zu Sophus gewandt. „Scheint leider ein wenig schüchtern zu sein.“

„Lass sie in Ruhe“, knurrte Sophus. „Wie war das mit der Grünberg und Koboldgold?“

„Aronia Grünberg hat in mehreren Muggelbanken Koboldgold in Muggelgeld getauscht. Sie ist dabei unglaublich dumm vorgegangen. Sie hat nämlich falsches Koboldgold verwendet.“

„Wie bitte?“ Sophus machte große Augen. „Was ist denn falsches Koboldgold? Ist das dann echtes Gold? Von so etwas habe ich noch nie gehört.“

„Du kennst aber auch gar nichts. Lebst du im vorigen Jahrhundert? Koboldgold kennst du, oder? Ist am nächsten Morgen weg.“

„Klar kenn ich das. Du hast mir in der Schule zwei Mal welches untergejubelt.“

„Alte Kamellen, vergiss sie endlich. Neuerdings gibt es Koboldgold, das sich nicht verflüchtigt. Stattdessen bleiben so kleine, runde Metallscheiben mit Werbeaufdruck zurück. Die nennt man falsches Koboldgold, weil sie nicht vollständig verschwinden. Hast du sicher schon mal gesehen. Die Muggel verwenden sie in ihren Geschäften, um diese sogenannten Einkaufswagen benutzen zu können. Jedenfalls bleiben, anders als bei echtem Koboldgold, da Spuren des Vorbesitzers haften. Wenn einem also einer solches Zeug als echtes Gold unterschiebt, kann man ganz schnell rausfinden, wer es war.“

„Und das hat Aronia Grünberg an Banken gegen Geld getauscht? Ich fass es nicht.“

„Es soll mit der ‚Hermine‘ nicht so gut laufen, habe ich gehört.“ Isidor trank geräuschvoll sein Bier.

„Aber was will sie mit Muggelgeld?“

„Sich absetzen. Einer ihrer Vertrauten hat ausgeplaudert, sie habe in die Schweiz gewollt. Da ist man mit Muggelgeld immer willkommen.

Es wäre gar nicht so pikant, wenn sie nicht ausgerechnet Muggeln geschadet hätte. Frau ‚Muggel-sind-die-besseren-Zauberer‘, da kann man mal sehen, was ihre flammenden Appelle wert sind. Ich habe meiner Frau ja schon vor Jahren verboten, deren Hetzblatt zu kaufen. Immer nur Muggel hier, Muggel da. Als ob es für Zauberer keine anderen Probleme gäbe.“

„Ich finde, die Frau hatte eigentlich Recht.“

Isidor riss den Mund in maßlosem Staunen auf. So starrte er sein Gegenüber eine halbe Minute an. Dann brach sich schallendes Gelächter Bahn.

„Nein … du … nein“, stammelte er lachend. „Das glaube ich jetzt nicht. Der Stecher von der Hohne-Klipp-Schule ein Kämpfer für die Gleichberechtigung der Muggel. Ist dir einmal zu oft ein Besenstiel an den Kopf geschlagen?“

„Nein, ich habe viel darüber gelesen.“

„Gelesen? Lesen ist ein Laster“, erklärte Isidor überzeugt. „Halt dich an die Wirklichkeit. In Büchern kann jeder alles behaupten. Da erklärt man dir in sauber gesetzten Worten, die Welt sei ein Würfel und die Sterne seien am Himmel festgetackerte Lampen. Und du kannst das nur glauben, steht ja gedruckt da. Nein, du musst durch die Welt laufen, alles angucken und anfassen. Dann weißt du, was wirklich los ist. Wenn du so viele Muggel wie ich kennengelernt hättest, wüsstest du, dass das alles Tölpel sind, die von nichts eine Ahnung haben. Wenn du denen von Zauberei erzählst, sagen sie dir, das seien alles nur Tricks. Letzte Woche hätte man erst im Fernsehen erklärt, wie man eine Jungfrau verschwinden lässt. Naja, eine Jungfrau verschwinden lassen, ist auch nicht so schwer. Das können selbst Muggel. Bleibt nur eine Frau zurück.“ Isidor zwinkerte Sophus zu.

Sophus trank einen Schluck von seinem Bier. Er musste hier raus. Fort von diesem grölenden Abziehbild eines Zauberers vom alten Schlag.

„Ich muss los“, sagte er. „War nett, mal wieder mit dir zu plaudern.“

Er sprang auf, ehe Isidor etwas entgegnen konnte.

„Du zahlst, oder? Du schuldest mir noch was.“

„Warte mal, warum rennst du denn weg?“

„Ich muss in die Werkstatt. Mein Zauberstab liegt da rum. Hast ja gesehen, dass ich nicht reingekommen bin.“ Bei diesen Worten stand Sophus bereits an der Tür. Sekunden später lief er auf die Straße und atmete tief durch. Er hoffte nur, Isidor käme ihm nicht gleich nachgerannt.

Er strebte sofort dem Buch- und Zeitschriftenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Dabei ließ er „Tränkemeisters Paradies“, ein Geschäft, das er sonst jedes Mal besuchte, und die Schneiderei für Umhänge von Hubertus Boll, die er sich sowieso nicht leisten konnte, links liegen.

Im Buchladen herrschte der gleiche Geruch nach altem Papier, an den er sich aus seiner Schulzeit erinnern konnte, als seine Eltern ihm hier Bücher für die Ausbildung gekauft hatten. Eine Glocke schlug beim Öffnen und Schließen der Tür an und eine kleine, verschrumpelte Hexe, die diese Bezeichnung mit jeder Faser ihres dürren Körpers verdiente, trat aus einer Regalreihe hervor.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

Sophus sah sich suchend um. „Führen Sie Zeitschriften über Heilkunde?“

„Aber natürlich, was suchen Sie?“

„‚Heilen mit Magie‘ oder ‚Muggel heilen heute‘ würden mich interessieren.“

„Warten Sie bitte“, die Hexe verschwand wieder zwischen den Regalen und kehrte mit drei Zeitschriften zurück.

„Hier.“ Sie legte ihre Beute auf die Ladentafel. „Das sind die aktuellen Ausgaben und ich habe auch ein Exemplar der ‚MHH‘ aus dem vorigen Quartal.“

„Gut, ich nehme alle drei. Außerdem noch die ‚Bild der Magie‘.“

Die Hexe zog die Augenbrauen nach oben. „Kein guter Tag für Muggelfreunde“, brummte sie. „Wenn es nach mir ginge, hätte man diese unmögliche Person schon zur Kur nach Sylt geschickt, als die erste ‚Hermine‘ gedruckt wurde. Die habe ich nie verkauft.“ Sie sah Sophus scharf an, ob der wohl widerspräche. Aber er zog es vor, diesmal den Mund zu halten. Wahrscheinlich war die Alte eine heimliche Verehrerin des dunklen Lords. Gab ja immer ein paar Verrückte, die meinten, an dessen Todestag Kerzen in ihre Fenster stellen zu müssen. Hängten Schilder mit der Zahl 2018 an ihre Besen, die 20 stand für T, die 18 für R – Tom Riddle.

Sophus zahlte eilig und verschwand so schnell es ging aus dem Laden. Die Alte ließ ihm eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass die bereits im Buchladen gearbeitet hatte, als er ein Kind war. Dann hätten ihn vermutlich keine zehn Pferde dort hineinbekommen.

Eilig machte er sich auf den Heimweg. Dort fiel sein Blick als Erstes auf den Aufmacher der aktuellen „Muggel heilen heute“.

„Frist zur Erinnerungsaufbewahrung verlängert“, stand da über dem Bild eines Zauberers, der einen Erinnerungsfaden aus dem Kopf eines Menschen zog und in eine Flasche füllte. Immer wieder folgte Sophus mit den Augen der Bewegung des Zauberstabes, der die silbrig-blaue Wolke zu dem Gefäß bewegte. Heiler bewahrten die Erinnerungen von Muggeln, die sie im Sinne der Geheimhaltung entnahmen, also auf. Das war ihm neu.

Er blätterte zum Inhaltsverzeichnis, suchte den entsprechenden Artikel und las ihn voller Interesse. Unmittelbar nach dem Bürgerkrieg in England war beschlossen worden, Muggel mit mehr Rechten auszustatten. Zauberer mussten zwar nach wie vor im Sinne der Geheimhaltung die Erinnerung von diesen verändern, wenn sie Teile der magischen Welt gesehen hatten, aber die abgezogene ursprüngliche Erinnerung war aufzubewahren. Bis vor kurzem war die Aufbewahrungsfrist zehn Jahre gewesen, das neue Gesetz erweiterte sie auf zwanzig.

Die Maßnahme diente sowohl dem Nachweis, dass die Änderung der Erinnerung tatsächlich notwendig war, als auch dem Schutz des betroffenen Muggels, falls durch einen Kunstfehler des Heilers oder Beamten des Bundesamtes zu viel Erinnerung entfernt worden war. Die Anwendung von Gedächtniszaubern ohne die Erinnerung zuvor zu konservieren, war streng verboten und galt als schwarze Magie.

Sophus hatte immer geglaubt, die Löschung und Anpassung von Gedächtnisinhalten laufen nach dem gleichen Muster ab wie vor hundert Jahren. Einfach Obliviate sprechen und dann das leere Blatt neu beschreiben.

Diesbezüglich war man, zumindest in Deutschland, schon einen Schritt weiter auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Wie in dem Artikel zu lesen war, verfolgte man eine ähnliche Praxis in Frankreich. In Großbritannien wurden Muggel weiterhin sorglos der Erinnerungen an Zauberer beraubt. Gleiches galt für Russland. Dagegen waren Zauberer in Rumänien, Bulgarien und Ungarn bestrebt, eine dauerhafte Gedächtnisspeicherung bis zum Tod der betroffenen Muggel durchzusetzen.

 

Als Sophus diesen Artikel las, wusste er noch nicht, dass er zwei Tage später Grund haben würde, sich zu diesem neu gewonnenen Wissen zu beglückwünschen.

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