Wie Sophus einer Illusionierung beiwohnt

Marie geht es besser, aber da sie von Zauberern nichts wissen darf, muss sie illusioniert werden, ihrer Erinnerung an Zauberei beraubt. Sophus kann nicht glauben, dass Lyra selbst die Operation durchführt, aber sie muss dem Gesetz gehorchen. Wie so etwas funktioniert und was Sophus sonst noch im Krankenzimmer der Heilerstation zu sehen und hören bekommt, lesen Sie hier.

Am nächsten Morgen erwachte Sophus vor Marie. Er hatte sich im Schlaf unglücklich gedreht, und Schmerz war erneut in seinen Beinen aufgeflammt. Kurze Zeit später wurde seine Mitpatientin wach. Sie gähnte herzhaft, streckte die Arme und sah sich erneut mit einem Ausdruck absoluter Ratlosigkeit im Zimmer um.

„Wo bin ich? Wie komme ich hier her?“

‚Endlosschleife‘, dachte Sophus kurz, dann antwortete er: „Sie sind im Krankenhaus. Erinnern Sie sich nicht mehr?“

Marie sah Sophus grübelnd an. Schließlich erhellte sich ihr Ausdruck, offenbar kamen Teile des gestrigen Abends in ihr Bewusstsein zurück.

„Sie sind leider kein Filmstar. Sie sind der Besenbinder, der Experimente macht“, sagte sie und lachte. Es war das erste Mal, dass sie einen fröhlichen Eindruck bei Sophus hinterließ.

„Stimmt. Außerdem bin ich der Mitpatient, der eine Stütze braucht, wenn er zur Toilette will.“

Er läutete nach einem Helfer, der ebenfalls in einem reinweißen Kittel erschien und daher nicht wie ein Zebraflamingo aussah. Er brachte Sophus Krücken ans Bett.

„Heilerin Bascomb meint, Sie müssten das inzwischen allein schaffen“, sagte er und stellte die Gehhilfen neben Sophus‘ Bett.

Als Sophus später endlich wieder sein Bett erreicht und auch Marie ihre Morgentoilette beendet hatte, sagte diese: „Sie wollten mir erzählen, was für Experimente ein Besenbinder macht, dass diese ihn in ein Krankenhaus bringen können. Haben Sie versucht zu fliegen?“ Das sollte wohl ein Scherz sein.

„Ja“, antwortete Sophus wahrheitsgemäß.

„Hören Sie doch auf.“ Marie lachte schallend. „Sie wollen mich veräppeln. Geben Sie es schon zu, was haben Sie angestellt?“

„Ich bin mit einem Besen geflogen, dessen hinteres Ende in Flammen stand. Dann bin ich abgestürzt. Drei gebrochene Rippen. Beine und Arme auch gebrochen.“

„Und den Kopf haben Sie sich angestoßen.“ Marie guckte kritisch zu ihm hinüber.

„Tatsächlich, ja, aber ich habe keinen solchen Schaden davongetragen, wie Sie jetzt glauben. Erinnern Sie sich daran, weshalb Sie hier sind?“

„Ja. Ich war in Bad Harzburg und wollte ins Casino. Und dann bin ich ohnmächtig geworden.“

„Was wollten Sie im Casino? Sind Sie eine Spielerin?“

Marie schaute entrüstet. „Nein, natürlich nicht. Ich wollte …“ Sie stockte, nahm erneut Anlauf: „Ich wollte …“

„Was wollten Sie? Kennen Sie einen Frank?“

„Ich weiß nicht mehr genau, was ich da wollte. Einen Frank kenne ich nicht, nein, sollte ich? Sagen Sie mal, was ist das hier für eine Klinik?“

„Das hat man ihnen doch schon erklärt, Luxusklinik.“ Sophus schaute Marie interessiert an. Er fragte sich, wie viel Wahrheit sie wirklich vertragen konnte.

„Luxusklinik?“ Das klang skeptisch. „Ich habe eher den Eindruck, es ist ein Irrenhaus. Ich weiß nicht mehr, was ich in Bad Harzburg wollte, geschweige denn im Casino. Sie erzählen mir von einem Absturz mit einem Besen. Wir müssen beide plemplem sein.“

„Wenn dem so wäre, wüssten wir es nicht, oder?“

„Ich sehe ja, dass Sie tatsächlich kaum laufen können. Also haben Sie sich wohl wirklich an den Beinen verletzt, aber doch wohl kaum bei einem Flug auf einem Besen.“ Marie schüttelte den Kopf.

„Ich wollte ein Herz aus Rauch an den Himmel zeichnen.“

„Das klingt ja sehr romantisch, macht die Besengeschichte allerdings nicht glaubhafter. Wer ist denn die Angebetete?“

„Heilerin Bascomb. Sie leitet diese Station.“

„Jetzt wird mir alles klar“, sagte Marie. „Da sind Sie mir ihrem Auto oder Motorrad gegen den nächsten Baum gebrettert, bloß um in ihre Obhut zu kommen. Ist zwar verrückt, aber man liest oft genug davon, dass Männer die unmöglichsten Dinge aus Liebe veranstalten.“

„Es war eine verrückte Aktion, das gebe ich zu“, erwiderte Sophus. „Aber ich habe kein Auto und kein Motorrad, nur meinen Besen, einen guten, alten ‚Blanker Hans‘.“

„Muss ein harter Schlag auf den Kopf gewesen sein“, erwiderte Marie. „Was lesen Sie da? Harry Potter?“

„Nicht direkt“, antwortete Sophus. Er reichte das Buch Marie, die auf ihrem Bett zum Fußende gekrabbelt war und den Arm zu ihm hinüberstreckte.

„‚Der Muggel‘“, las Marie den Titel laut vor. „Habe ich noch nie gehört. Ist das auch von der Rowling?“ Sie schaute auf den Autor. „Heiler William Senquitsch. Ist das ein neues Pseudonym dieser Frau? Die schreibt ja fortwährend unter anderen Namen.“

Sophus schüttelte den Kopf. „Schlagen Sie es auf, lesen Sie.“

Marie tat wie geheißen.

„Anatomie“, las sie aus dem Inhaltsverzeichnis vor. „Muggelkrankheiten, Grundlagen der Illusionierung, Transport­apparieren mit Muggeln, Vergiftungen durch Tränke, Besenunfälle … Meine Güte, was für ein Buch ist das?“

„Ein Fachbuch“, sagte Sophus. „Für Heiler, die Muggel behandeln, die durch einen Zauber oder Zauberer verletzt wurden.“

Marie schob das Buch vom Bett, kroch an das äußerste Ende ihres Bettes, nahm ihren Kopf zwischen die Hände und jammerte: „Nein, nein, ich halluziniere.“

„Keineswegs, wahrscheinlich waren Sie lange nicht mehr so klar wie heute Morgen“, sagte Sophus. Er nahm eine der Zeitschriften vom Stapel und warf sie zu Marie hinüber. „Hier.“

In diesem Moment kam Lyra ins Zimmer. Sie sah die auf dem Bett zusammengekauerte Marie, die Zeitschrift auf deren Bett und das Buch auf dem Boden und wusste sofort, was all das zu bedeuten hatte.

„Bist du wahnsinnig geworden?“, schrie sie Sophus an, der rot wurde wie eine Tomate. „Was tust du der armen Frau an?“

„Ich … Ich wollte … Ich bin … Ich habe …“, stammelte er.

„Sagen Sie mir die Wahrheit“, flehte die Frau vom Bett her. „Bin ich psychisch krank? Habe ich Wahnvorstellungen?“

„Nein, Sie sehen viel besser aus heute Morgen.“ Lyra war ans Bett getreten. Sophus sah, dass sie die Hände hinter dem Rücken verbarg. Vermutlich hielt sie dort ihren Zauberstab bereit. Wollte sie Marie illusionieren?

„Aber dieser Mann“, sie zeigte auf Sophus. „Er hat behauptet, mit einem fliegenden Besen abgestürzt zu sein. Und dann das alles ...“ Sie wies auf das Buch und die Zeitschrift zu ihren Füßen. „Außerdem weiß ich gar nicht mehr genau, warum ich eigentlich in Bad Harzburg war.“

Lyra nahm das Buch zur Hand, legte es auf das Nachtschränkchen des Nachbarbettes und sagte: „Das ist sowieso veraltet.“

Marie stutzte. „Veraltet? Wie kann ein Buch veraltet sein, wenn es nur irre Behauptungen enthält?“

„Das ist alles deine Schuld“, wandte sich Lyra an Sophus. „Ich habe gleich gewusst, dass es nicht gut geht, wenn du hier bleibst.“

„Aber ich habe doch nur praktiziert, was du in deinen Artikeln gefordert hast.“ Er wedelte mit einer weiteren Zeitschrift herum.

„Aber das muss man doch behutsam machen. Du aber nimmst die Brechstange.“

„Wovon reden Sie?“ Die Stimme der Patientin klang schrill.

„Zeig ihr, was du hinter dem Rücken hältst“, forderte Sophus.

Marie schaute nervös zu Lyra. Offenbar fiel ihr erst jetzt auf, dass sie Hände der Heilerin all die Zeit nicht zu sehen gewesen waren.

Sophus schlug die Zeitschrift, mit der er zuvor gewunken hatte, auf, blätterte darin herum und las dann laut vor: „Wenn wir nichtmagisch begabte Menschen als gleichberechtigte Individuen ansehen wollen, müssen wir ihnen das Recht zugestehen, selbst zu entscheiden, ob sie wissend unsere Heilerstationen verlassen oder wieder in den Zustand der Unwissenheit zurückversetzt werden wollen.“

„Da geht es um Leute, die bereits wissen, dass sie durch einen Zauberer verletzt worden sind.“

„Durch einen Zauberer verletzt“, echote Marie.

Sophus nahm sich eine andere Zeitschrift. „Hier, das war der beste Artikel, den ich bisher gelesen habe. Da steht es doch ganz deutlich. ‚In einer Zeit, in der nicht mehr Aberglauben und Furcht vor dem Unbekannten herrschen, in einer Zeit da die Menschen ohne magische Begabung‘ – das muss lange her sein, dass du das geschrieben hast – ‚fliegen, sich über weite Strecken drahtlos unterhalten, denkende Maschinen benutzen, in so einer Zeit ist es nicht mehr statthaft, an der Fähigkeit dieser Menschen zu zweifeln, sich mit der Realität der Magie auseinanderzusetzen.‘“

„Ja, das habe ich geschrieben“, fauchte Lyra. „Und dazu stehe ich. Aber hier und jetzt geht es um das Wohl meiner Patientin. Und die hat offensichtlich Angst vor dir.“ Lyra deutete auf die am Kopfende des Bettes hockende Marie.

Die hatte den Wortwechsel wie ein Tennismatch verfolgt, den Kopf immer von einem Sprecher zum nächsten wendend.

Schließlich sah sie wieder zu der vor Wut wie nach einem Lauf schwer atmenden Lyra hinüber und fragte erneut zaghaft: „Wo bin ich?“

„Sie sind in guten Händen.“ Lyra versuchte, ihre Stimme besonders sanft klingen zu lassen.

Doch sie erzeugte eine Reaktion, die das glatte Gegenteil von dem war, was sie zu erreichen angestrebt hatte. Marie sprang aus dem Bett und ging wie eine Furie auf Lyra los. Noch ehe diese ihren Zauberstab in Bereitschaft hielt, war sie von der anderen Frau gepackt worden.

„Was haben Sie da? Was haben Sie da?“, schrie Marie und versuchte, hinter Lyras Rücken deren Hände zu erreichen.

„So hilf mir doch, mein Gott“, schrie Lyra Sophus an, der das Schauspiel nur interessiert beobachtete.

Die Tür ging auf. Saphira kam mit gezücktem Zauberstab in den Raum. „Was ist denn hier los?“, rief sie aus, als sie den Tumult vor Maries Bett sah.

„Lyra geh zur Seite, sonst erwische ich dich“, sagte sie und wedelte mit ihrem Zauberstab herum in dem Bemühen, die Patientin ruhigstellen zu können.

„Wie denn, ich fühle mich wie in einer Armklammer.“

Saphira warf Sophus den Zauberstab auf das Bett. „Erledigen Sie das.“

„Ich?“ Sophus glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Ich war nie sehr gut in Zaubersprüche.“

„Sie werden ja wohl einen einfach Lähmungszauber hinbekommen – Scheiße.“

Marie hatte tatsächlich Lyras Zauberstab in die Finger bekommen. Sie ließ diese wieder los und trat einen Schritt zurück, wohl um ihre Beute zu inspizieren.

„Was macht eine Ärztin mit einem Holzstock?“, fragte sie in den Raum. „Das ist doch nicht wirklich …“, sie wagte nicht, das Wort auszusprechen.

„Doch“, sagte Lyra sehr ruhig, „das ist mein Zauberstab. Eibe mit Einhornhaar, 32 Zentimeter lang. Geben Sie ihn mir bitte zurück. Sie können sowieso nichts damit anfangen.“

Marie schwenkte den Stab in der Luft herum, ohne dass irgendeine Reaktion erfolgte. Es hätte tatsächlich ein beliebiger Stecken aus dem Wald sein können.

„Wollen Sie nicht endlich eingreifen“, fuhr Saphira Sophus an.

„Lass nur“, sagte Lyra. „Jetzt ist es sowieso zu spät. Bring einfach das Frühstück.“

Saphira blickte erst zu Lyra, dann zu Sophus hinüber. Sie hielt eine Hand nach vorn und verlangte: „Rüberwerfen, aber dalli.“

Sophus warf den Zauberstab zurück und Saphira verließ das Zimmer.

„Setzen Sie sich, bitte, und geben Sie mir meinen Zauberstab. Es ändert nichts an den Tatsachen, wenn Sie damit herumfuchteln.“ Lyra streckte Marie die offene Hand hinüber.

Marie ließ sich auf das Krankenbett fallen. „Aber … das ist nicht möglich.“ Sie hielt Lyra den Zauberstab hin, die ihn eilig ergriff und in eine Tasche ihres Kittels schob.

Marie blickte auf und sah der Heilerin ins Gesicht. „Ich war im letzten Sommer in London. Da habe ich auch den Bahnhof King’s Cross besucht. Sie wissen schon.“

„Nein, was kann man da besichtigen?“

„Man kann ein Foto machen. Gleis 9 ¾. Das ist aber nur eine Attrappe. Ein Gepäckwagen, der halb in eine Wand eingemauert ist. Warum sollte man so etwas machen, wenn es das Echte gibt?“

„Weil die meisten Menschen dieses niemals zu Gesicht bekommen.“ Lyra seufzte. „Sie waren also in London und sind extra zu diesem Bahnhof gefahren, nur um sich an eine Attrappe von Gleis 9 ¾ zu stellen, aber an Zauberei glauben Sie nicht?“

„Ich war gar nicht so wild darauf, aber George wollte so gern.“

„Wer ist George?“

„Ein junger Mann, den ich London kennengelernt habe. Ich liebe Tee, also bin ich zu ‚Twinnings‘ gegangen und da hat er sich einfach an meinen Tisch gesetzt.“ Marie lachte plötzlich.

„Warum lachen Sie?“

„George hätte ihnen sofort geglaubt. Der war regelrecht von diesen Potter-Büchern besessen. Hatte sich einen weiten Umhang gekauft und sogar einen Zau…“ Marie stutzte. „Meine Güte, der war echt, oder? Das war gar kein verrückter Büchernarr, der war tatsächlich ein Zauberer.“

„Sieht so aus, ja.“ Eine steile Falte wurde auf Lyras Stirn sichtbar. „Verzeihen Sie bitte, aber was ich Sie jetzt frage, ist wichtig. – Sophus, hör weg. – Hatten Sie Verkehr mit diesem George?“

„Äh.“ Marie wurde rot. Sie blickte zu Sophus hinüber, der sehr betont aus dem Fenster schaute. Dann nickte sie.

„Könnte es sein, dass das nicht ganz freiwillig geschehen ist. Ich meine nicht, ob er Sie direkt gezwungen hat. Hatten Sie vielleicht das Gefühl nicht ganz bei Sinnen zu sein, als es geschah. Waren Sie nicht Sie selbst?“

„Ich weiß nicht recht. Anfangs fand ich ihn ziemlich blöd. Allein, dass er sich so einfach mit an den Tisch setzte, ohne überhaupt zu fragen, ob das okay wäre. Aber ich dachte mir dann, die Engländer sind wohl so. Und dann hat er die ganze Zeit geredet. Hat mich regelrecht zugeschüttet mit Worten – eigentlich wollte ich aufstehen und gehen.“

„Warum haben Sie das nicht getan?“

„Er hat mir einen Tee spendiert. Ich dachte: ‚Ist eine nette Entschädigung dafür, dass ich mir seinen Sermon anhöre.‘ Er hat den Tee geholt, ich habe ihn getrunken und dann …“ Marie stockte.

„Was dann?“

„Dann wollte ich ihn nicht weglassen. Ich habe mir … Sachen vorgestellt, die ich mit ihm machen wollte. Seltsame Sachen, an die ich nie zuvor bei einem Mann gedacht hatte.“

„Na, Sophus, kommt dir das bekannt vor?“, fragte Lyra.

„Kommt auf die Sachen an, die sie sich vorgestellt hat.“ Sophus guckte verlegen.

„Er hat ihnen einen Liebestrank gegeben. Soweit wir feststellen konnten, handelte es sich um Eroteria. Schlecht gebraut, Sie hatten einen Flashback. So wie man das von manchen Rauschgiften kennt. Sie haben irgendwo einen Männernamen aufgeschnappt und sich eingebildet, einen Mann dieses Namens zu begehren. Eroteria ist weniger ein Trank der Liebe als vielmehr einer der Lust. Was genau Sie zum Casino in Bad Harzburg getrieben hat, und woher Sie den Namen Frank haben, wissen wir freilich nicht.“

Marie sah von Lyra zu Sophus und zurück. Sie schüttelte, weiterhin ungläubig, den Kopf.

„Sie glauben es immer noch nicht, oder?“, fragte Lyra.

„Es ist einfach völlig verrückt. Klar, man liest so etwas in Büchern, aber das gibt es doch nicht wirklich.“

„Wissen Sie, ich war selbst so einer“, sagte Sophus unvermittelt.

„Wie meinen Sie das?“ Marie sah ihm direkt ins Gesicht. Neugier spiegelte sich in ihren Augen.

„So ein Drecksa… Schmutzfink“, verbesserte er sich. „Einer der jungen Frauen einen Liebestrank verabreicht und sie dann vernascht. Ich kenne viele Gebüsche in und um Wernigerode.“

„Und heute?“ Skepsis klang aus Maries Stimme heraus.

„Heute liebe ich nur Lyra.“ Er deutete mit dem Kopf zur Genannten hinüber. „Ich will keine andere Frau. Aber sie schickt mich nur fort.“

Marie blickte zu Lyra hinüber. „Stimmt das?“

„Nicht ganz. Es ist seine Strafe. Er hat versucht, mir einen Liebestrank unterzujubeln. Da war er an der falschen Adresse. Man hat ihn zu zwei Monaten gebrochenem Herzen verurteilt. Bei uns gilt auch heutzutage Auge um Auge, Zahn um Zahn.“

„Gebrochenes Herz? Er läuft doch nicht wirklich mit einem kaputten Herzen herum?“

„Nein, er hat einen schweren Liebestrank bekommen, den wirksamsten den es gibt. Die Dosis ist für zwei Monate bemessen. Deshalb glaubt er, er müsse den Boden küssen, auf dem ich gehe.“ Lyra grinste. „Genau diese Strafe hätte ihr George verdient.“

„Aber er sitzt dort“, Marie zeigte auf Sophus, „und hört ihnen zu. Er muss doch wissen, dass da ein Liebestrank im Spiel ist.“

„Das ist egal. Die Wirkung ist so stark, sie wischt jeden Zweifel beiseite. Sie können ihm immer und immer wieder erklären, dass da nur ein Trank ihn verwirrt. Er wird dennoch in Liebe für mich vergehen. Stimmt’s Sophus?“

„Du weißt genau, wie wenig mir der Trank ausmachte, wenn ich nicht wirklich in dich verliebt wäre. Komm her, fühl mein Herz, es rast schon wieder, seit du im Raum bist.“

„Da haben Sie es.“

„Und was ist mit mir? Können Sie mich heilen?“

„Das haben wir bereits“, erklärte Lyra. „In ihrem Tee gestern Abend war ein Antidot. Darum wussten Sie heute früh nichts mehr von einem Frank. Auf den waren Sie gestern noch ganz wild.“

„Dann könnten Sie mich heute entlassen?“

„Ja, aber zuvor ist eine Illusionierung erforderlich.“ Lyra wedelte mit dem Zauberstab, den sie wieder aus der Tasche geholt hatte.

„Illusionierung?“ Maries Stimme klang ängstlich.

„Es ist so etwas Ähnliches wie Anästhesie.“

„Quatsch“, mischte sich Sophus ein. „Man betäubt Sie, modelt ihre Erinnerung um und dann bringt man Sie dorthin zurück, wo man Sie aufgelesen hat. Sie werden wahrscheinlich in Bad Harzburg im Kurpark auf einer Bank aufwachen, in dem Glauben nur ein kurzes Nickerchen in der Sonne hinter sich zu haben.“

„Aber warum?“

„Weil die Existenz von Zauberern geheim gehalten werden muss. Das ist Gesetz, immer noch, leider.“

Nach diesen Worten hob Lyra den Zauberstab, schwang ihn mit einer kurzen Bewegung des Handgelenks und rief: „Morpheum!“

Marie schloss sofort die Augen und sank hintenüber.

„Tut sie dir nicht leid?“

„Doch, aber wie ich dir schon mal sagte, noch ist Illusionierung Pflicht. Wenn ich es nicht tue, verliere ich meine Zulassung als Heilerin. Wahrscheinlich darf ich zusätzlich ein halbes Jahr auf Sylt verbringen. Willst du das?“

„Aber das widerspricht doch allem, wofür du kämpfst, worüber du schreibst.“ Sophus sah frustriert zu, wie Lyra über ihren Zauberstab zwei Helfer herbeirief.

„Deshalb schreibe ich ja diese Artikel. Ich will, dass sich etwas ändert. Vielleicht bewege ich auf diese Weise eines Tages genug Heiler, auf eine Änderung der Gesetze zu drängen. Dann könnten die nichtmagisch Begabten selbst entscheiden, ob Sie ihr Wissen über Zauberer behalten wollen oder alles lieber wieder vergessen.“

„Und bis es so weit ist?“

„Halte ich mich an das Gesetz und illusioniere meine Patienten. Außerdem bist du gewiss nicht derjenige, der mich deshalb verurteilen könnte.“

„Ich verurteile dich nicht.“ Sophus zeigte sich zerknirscht.

„Tu bloß nicht so, als wärst du vom Snape zum Serverus verhext worden“, erwiderte Lyra und trat näher an ihre Patientin. Sie hielt kurz ihren Zauberstab an deren linke Brustseite.

Die Helfer, jetzt wieder in rot-weiß, traten ins Zimmer und Lyra ging hinaus. Sophus schaute zu, wie Marie auf eine Bahre gelegt und aus dem Raum transportiert wurde. Er sagte sich, dass es ein dummes Gesetz sei, denn jetzt konnte Marie erneut einfach Opfer eines Zauberers werden, der ihr einen Trank unterjubelte, weil sie nicht Bescheid wusste!

Als er allein war, griff er wieder nach einer der Zeitschriften und vertiefte sich in einen Artikel über die Behandlung von durch falsche Süßigkeiten ausgelöstes Nasenbluten bei nichtmagisch begabten Kindern. Der Autor, ein Bruder von Lyra im Geiste, vertrat die Meinung, Kinder könnten Magie viel eher verstehen und hegten weniger Vorurteile gegen Zauberer. Daher wären sie diejenigen, bei denen man mit der Änderung der Geheimhaltungsdoktrin beginnen müsse.

Sophus erfuhr durch seine Lektüre, dass hinter den Kulissen ein regelrechter Kampf tobte. Die eine Fraktion der Heiler vertrat nach wie vor der Meinung, Muggel seien eben Muggel und müssten entsprechend behandelt werden. Man war als Zauberer verpflichtet, sie zu respektieren, aber eher so, wie man kleine Kinder respektierte. Man tat ihnen nichts zuleide, aber man gab ihnen nicht das scharfe Küchenmesser und erst recht nicht den Zauberstab.

Die andere Fraktion erklärte, diese Ansicht stamme aus dem Mittelalter, wo Aberglaube regiert, man Hexen und Zauberer verbrannt habe. Heute hätten die nichtmagisch Begabten Kenntnisse von sogenannten Quanten, die kein Zauberer je gesehen oder beschworen habe, die aber mal hier und mal da sein könnten, je nachdem wo man hingucke. Wahrscheinlich wären sie die tiefere Ursache aller magischen Effekte. Da aber Zauberer nun einmal kaum mit höheren Zahlen als sieben rechnen könnten, wäre diese Welt für sie verschlossen und man bräuchte die nichtmagisch Begabten, um genau an dieser Stelle mehr Verständnis über die eigene Kunst zu erlangen. Dazu müsse man sich ihnen aber öffnen. Man dürfe die Existenz von Magie nicht länger geheim halten. Darüber hinaus hätte man erste Schritte schließlich bereits getan.

Je länger Sophus über die Argumente beider Lager nachdachte, umso mehr tendierte er zur Ansicht, das Letztere Recht hätten. In vielerlei Hinsicht waren die Muggel, oh, nichtmagisch Begabten, heute den Zauberern sogar überlegen.

Weil sie unter der Geheimhaltungsdoktrin lebten, waren Zauberer immer gezwungen, besondere Vorsichtmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie sich versammelten, egal ob zu Sportveranstaltungen oder Zaubererkongressen. Das band einen Teil ihrer Mittel. Sie konnten sich nicht wirklich frei bewegen, waren immer gezwungen, Barrieren zu errichten, die die normale Welt vor ihnen abschirmte. Sie waren praktisch Gefangene ihrer eigenen Fähigkeiten.

Die Folge war, dass Veranstaltungen, bei denen sich Zauberer zusammenfanden und über Magie diskutierten, spärlich waren. Jeder werkelte für sich an neuen Sprüchen und Tränken herum. Wenn man sich doch einmal traf, zeigte sich jeder Zauberer so von der eigenen Größe und Fähigkeit eingenommen, dass er kaum zuhörte, wenn ein anderer sprach. Das galt für die guten Magier. Schwarze Magier waren absolute Eigenbrötler. Zum Glück, muss man hier sagen, denn dadurch wurde die schwarze Magie in ihrer Entwicklung weitaus mehr gehemmt als die weiße.

Die Heiler waren eine Ausnahme. Bei denen bestand von Anfang an mehr Kontakt zu Muggeln, da diese immer wieder durch Unachtsamkeit auf beiden Seiten und natürlich durch echte Bosheit von Zauberern verletzt worden waren. Obwohl jeder Heiler der konservativen Fraktion dem vehement widersprochen hätte, erwies es sich, dass dieser Kontakt auch die Heiler weitergebracht hatte. Sie erkannten das große Potential von Kongressen und Konvents. Es gab in keinem anderen Bereich der Magie so viele regelmäßige Publikationen wie auf dem Gebiet der Heilkunde. In anderen magischen Disziplinen beschränkten sich einzelne Zauberer darauf, hin und wieder ein Buch zu veröffentlichen, um zu zeigen, wie großartig sie waren.

Während Sophus über diese Argumentation in einem Artikel, der „Abriss zur Geschichte der Heilkunst“ überschrieben war, nachdachte, schlich sich Lyra wieder in seine Gedanken. Sie fuhr zu einem Kongress. Wann sollte der sein? Und wo? Lyra hatte davon gesprochen, es wären zwei Monate Zeit. Aber das war natürlich kein konkreter Termin. Vielleicht, so überlegte er sich, gab es in einer der Zeitschriften einen Hinweis auf diese Veranstaltung. In hektischer Betriebsamkeit begann er zu suchen.

Die nächsten Tage verbrachte Sophus abwechselnd mit Gehversuchen und der Suche in den Zeitschriften über Heilkunst. Er hätte Lyra gern wiedergesehen, aber die ließ sich nicht einmal zu Visite in seinem Zimmer blicken. Einzig eine Werbeanzeige für einen Heilerkongress in Dresden munterte ihn ein wenig auf. Er las die avisierten Vortragsthemen und den Termin und wusste, das war der Kongress, den Lyra besuchen würde.

Einmal bat er Cleo, Blumen zu besorgen und in Lyras Büro zu bringen. Am Abend trug Saphira einen Strauß dunkelroter Rosen in sein Krankenzimmer und stellte ihn auf seinen Nachttisch.

„Heilerin Bascomb meint, die wären wohl falsch abgegeben worden“, erklärte sie. Sophus seufzte resigniert. „Außerdem sind Rosen nichts für sie.“

„Wirklich nicht?“

„Heilerin Bascomb liebt bunte Sträuße. Im Sommer hat sie oft einen auf dem Schreibtisch, den sie selbst im Garten zusammengestellt hat. Alles durcheinander.“

„Lyra hat einen Garten?“

„Sie hat ein kleines Häuschen am Rande von Wernigerode. Ein kleiner Garten gehört dazu. Natürlich hat sie nicht viel Zeit, sich darum zu kümmern. Sie lässt ja keinen Dienst aus, seit Heiler Hecht nach Australien gegangen ist.“ Saphira schaute grimmig drein.

Dieser Mann war auf der Muggelstation offenbar so beliebt wie Griselkrätze.

„Liebt sie diesen Heiler immer noch?“, wollte Sophus wissen.

„Das weiß ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass es Sie etwas anginge.“

„Aber ich liebe Lyra, ich will sie nicht verlieren.“

Saphira schüttelte den Kopf wie über einen dummen Kinderstreich. „Wie können Sie etwas verlieren, was Sie gar nicht besitzen? Lassen Sie Lyra in Frieden. Wenn Sie sie aufrichtig lieben, lassen Sie sie einfach in Ruhe.“

Als Cleo ihn am nächsten Tag damit fertig war, ihn durch die Mangel zu drehen, sagte sie: „Das war heute schon sehr gut. Ich werde Lyra sagen, dass sie wieder fit sind und entlassen werden können.

„Heute?“

„Na, hören Sie mal, normalerweise freuen sich Patienten, wenn ich ihnen das sage.“ Cleo stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn entrüstet an.

„Ich würde mich freuen, wenn ich Lyra weiterhin sehen könnte.“ Sophus setzte sich auf die Kante seines Bettes und sah zu der Krankengymnastin auf.

„Ich weiß ja nicht, ob Sie Lyra wirklich lieben oder alles nur mit diesem Zaubertrank zusammenhängt. Ich bin ja keine richtige Heilerin – jedenfalls in den Augen der meisten anderen. Aber wenn doch etwas mehr als ein paar geschickt gemischte Zutaten bei ihnen diese Gefühle auslösen, dann bin ich auf ihrer Seite.“

„Warum?“

„Weil ich mal Lyras Freundin war, bevor der tolle Hecht sich an sie rangemacht hat. Ich habe sie vor ihm gewarnt, habe ihr gesagt, dass er mit jeder Helferin im Haus rummacht. Ich hatte selbst eine kurze Affäre mit ihm. Er sah ja auch lecker aus. Die Massageliege in der Vier … na, Sie können es sich sicher denken. Egal, Lyra wollte nichts hören, meinte ich wäre neidisch, weil er sich für sie entschieden hat. Nachdem er fort war, hat sie sich verändert. Sie war eine lebenslustige, junge Frau, als wir zusammen gelernt haben, jetzt ist sie eine verbissene Muggelistin.“

„Aber sie hat Recht.“

„Ja und nein. Sie hat Recht, wenn sie sagt, man sollte alle Menschen gleichbehandeln. Aber man kann das nicht an Worten festmachen.“

„Aber gehört das nicht dazu? Würden Sie denn jemanden einen Schlammblüter nennen?“

„Ich würde auch niemanden ein Arschloch oder einen Bastard nennen, weil das wirklich Schimpfnamen sind. Aber mir ist jemand, der sagt, er sei mit einem Muggel befreundet, lieber, als einer der mir davon erzählt, dass er einen nichtmagisch Begabten mit dem Imperius-Fluch belegt und wie ein Huhn gackernd und hüpfend über die Straße geschickt hat. Genau das hat mir ein Typ in unserer Kantine mal erzählt. Wollte mich beeindrucken. Sie wissen gar nicht, wie viele Schmerzpunkte eine chiropraktisch geschulte Krankengymnastin kennt. Dem Typen habe ich alle gezeigt.“

Sophus lachte. „Das kann ich mir gut vorstellen. Aber ich war früher kaum besser, oder?“

„Sie denken drüber nach. Das ist schon viel wert. Also, wenn Sie Lyra wirklich lieben und Hilfe brauchen, fragen Sie mich.“

„Sie könnten mir wirklich helfen“, sagte Sophus. „Ich würde Lyra gern in Wernigerode besuchen. Wo wohnt sie?“

Cleo drohte ihm schelmisch mit dem Finger. „Sie haben nicht zugehört. Ich habe gesagt, ich helfe ihnen, wenn Sie sicher sind, dass Sie Lyra wirklich lieben. Solange Amortentia in ihrem Blut ist, kann ich ihnen diese Auskunft nicht geben. Ich will Lyra schließlich keinen Stalker auf den Hals hetzen. Ich war mal ihre Freundin. Außerdem kann ich das gar nicht. Passen Sie auf. – Lyra wohnt i-ee-ä.“

Sophus sah Cleo entgeistert an.

„Lyra kennt mich. Den Zungenkleber hat sie mir in der Kantine verpasst, gleich an dem Tag als ich für Sie zur Krankengymnastik eingeteilt wurde. Kommen Sie zu mir, wenn ihre Strafzeit abgelaufen ist. Dann bringe ich Sie persönlich vor Lyras Haustür.“ Cleo zwinkerte ihm zu. „Vielleicht bleibe ich als Anstandswauwau da.“

Sophus lächelte, bedankte sich und schüttelte Cleo die Hand. Hinterher untersuchte er seine Finger auf Brüche.

Am nächsten Morgen kam Lyra erneut zu ihm. Sie erklärte, sie müsse ihn wenigstens ein letztes Mal ansehen, schließlich würde sie die Entlassungspapiere unterschreiben. Sophus hoffte, dass mehr dahintersteckte.

 

Einer der Flamingozebras brachte ihn als Sozius auf seinem Besen zum Bahnhof von Drei Annen Hohne zurück. Anschließend ließ er sich von der Brockenbahn zu Tal bringen. 

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