Wie bei Sophus Besserung einsetzt

Sophus liegt auf der Muggelstation- Zunächst scheint es, als würde er verlegt, aber schließlich darf er doch bleiben. Die robuste Krankengymnastin Cleo nimmt sich seiner an. Nebenbei erfährt er auch einiges über die vergangene Liebe seiner angebeteten Lyra. Schließlich wird die Muggelfau Marie in sein Zimmer gebracht, die unter den Nebenwirkungen eines verkorksten Trankes leidet. Wenn Sie wissen wollen, wie sich Sophsu die Zeit in der Heilerstation vertreibt und wie er auf die Muggel reagiert, dann lesen Sie hier weiter.

Als Sophus am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich wesentlich besser. Wenn er die Arme bewegte, spürte er fast keine Schmerzen mehr. Ihn beschlich die Angst, er würde nicht einfach nur auf eine andere Station verlegt, sondern direkt entlassen, da er so große Fortschritte gemacht hatte. Als er jedoch die Beine über den Bettrand schwang, meldete ein heftiger Schmerz in seinen Waden, dass noch lange nicht alles wieder beim Alten war. Als er dann versuchte sich zu erheben, um die Toilette aufzusuchen, knickten seine Beine ein und er wäre beinahe gestürzt. Mit Mühe gelang es ihm, sich zurück auf das Bett fallen zu lassen.

 

Er fand einen Knopf am Kopfende seines Bettes. „Schwester rufen“ konnte man dort lesen. Er wusste nicht, wessen Schwester er wohl riefe, wenn er den Knopf drückte, aber das war ihm im Moment egal, denn wenn er kein nasses Bett wollte, brauchte er einen Menschen, der ihn auf dem Weg zur Toilette stützte.

 

Kaum hatte er den Knopf gedrückt, erschien Saphira. Statt ihres grünen Umhanges trug sie einen weißen Kittel.

 

„Guten Morgen“, sagte sie. „Ach, Sie sind das. Hatte ich ganz vergessen. Da hätte ich mich nicht extra verkleiden müssen.“

 

„Guten Morgen, wieso verkleiden?“

 

„Sind Sie blind?“ Sie zeigte auf den weißen Kittel. „So etwas tragen die Helfer der Heiler in den Krankenhäusern der Muggel.“

 

„Sie meinen, der nichtmagisch Begabten.“

 

„Hat die Chefin Sie angesteckt? Na, meinetwegen. Was wollen Sie?“

 

„Ich muss mal für Jungs und komme nicht allein ins Bad.“

 

Saphira trat ans Bett heran, umfasste Sophus mit geübtem Griff und sagte: „Kommen Sie.“

 

Wie zwei Zecher auf dem Heimweg bewegte sich Sophus mit der Heilerin in Richtung Bad. Als sie schließlich vor der Toilette standen, schaute er sie zweifelnd an. Er wusste nicht recht, wie es weitergehen sollte.

 

„Setzen Sie sich vorsichtig nieder. Ich helfe ihnen.“

 

„In Hosen?“

 

„Nein. Denken Sie, ich habe nie zuvor einen nackten Mann gesehen?“

 

Saphira hielt Sophus fest, während er seine Hosen nach unten zog, und setzte ihn dann vorsichtig auf dem Toilettensitz ab. Dann machte sie sich auf den Weg zur Tür.

 

„Rufen Sie, wenn Sie fertig sind.“

 

Die Prozedur der Morgentoilette war unter den neuen Umständen für Sophus ziemlich langwierig. Als er schließlich wieder in seinem Krankenbett lag, machte sich Saphira auf den Weg um Frühstück zu holen.

 

Sie kam mit einem Tablett zurück, klappte ein paar Füße daran aus und stellte es über Sophus‘ Bauch auf das Bett.

 

„Lassen Sie sich ihre Henkersmahlzeit schmecken. Dann machen Sie Platz für wichtigere Fälle.“

 

„Wie lange wird es denn noch dauern, bis ich wieder vollständig hergestellt bin?“

 

„Na, eine Woche müssen sie bestimmt bleiben. In den Büchern von McGonagall wird das so dargestellt, als schlucke man Skele-Gro, und alles wäre sofort wieder gut. So ein Quatsch. Das Zeug beschleunigt das Knochenwachstum, aber das geht natürlich auf Kosten der Muskulatur – Breifingers Erhaltungssatz der Heilkunst. Wir müssen also ihre Muskeln wieder aufbauen, und das geht am besten durch Gymnastik. Ab morgen wird sich die Krankengymnastin von Station vier um Sie kümmern. Sie tun mir jetzt schon leid. Alle sagen, die ist ein Drache. Selbst Drachenheger haben mir das erklärt. Sie waren sich bloß nicht einig ob Stachelbuckel oder Hornschwanz.“

 

Sophus guckte verzweifelt und biss in ein Stück Toast.

 

„Ich komme wieder, wenn der Umzug beginnt.“ Mit diesen Worten verließ Saphira den Raum.

 

Aber als das Mittagessen gebracht wurde, lag Sophus noch immer in dem Vier-Bett-Zimmer der Station für nichtmagisch Begabte und langweilte sich. Er hatte den ganzen Vormittag damit zugebracht, sich Worte zu überlegen, die Lyra überzeugen könnten, ihn doch auf dieser Station zu behalten. Vielleicht gab es hier ja ebenfalls eine Krankengymnastin. Möglicherweise sogar eine, die kein Drache war.

 

Wieder war es Saphira, die mit einem Tablett erschien. Sie stellte es vor Sophus auf und verkündete: „Planänderung!“

 

„Was soll das heißen?“

 

„Sie bleiben uns erhalten. Heilerin Bascomb hat es sich anders überlegt.“

 

„Oh.“ Sophus strahlte bei dieser Ankündigung über das ganze Gesicht.

 

„Freuen Sie sich nicht zu früh. Sie hat die Krankengymnastin von Station vier angefordert. Die ist vielleicht sauer, dass sie extra wegen einem, wie sie glaubt, Muggel hier runterkommen muss. In einer Stunde geht es für Sie los. Sie dürfen schon mal Schmerzensschreie unterdrücken üben.“

 

Die Krankengymnastin trug einen weißen Kittel, wie Saphira ihn am Morgen getragen hatte. Sie war eine Frau, der man ihre Begeisterung für sportliche Aktivitäten deutlich ansah. Über dem sonnengebräunten Gesicht zeigte sich eine Kurzhaarfrisur mit Ponyfransen.

 

Aus dem ärmellosen Kittel ragten zwei muskelbepackte Arme heraus. Sophus vermutete, diese Frau würde ihn mühelos über den Kopf stemmen oder mit einem Boxhieb niederstrecken können, wenn er nicht parierte.

 

„So, dann wollen wir mal“, sagte sie zur Begrüßung, klatschte in die Hände und setzte fort: „Aufstehen, aufstehen, keine Müdigkeit vortäuschen.“

 

Mühsam richtete sich Sophus auf.

 

„Sieht doch sehr gut aus. Einfach stehenbleiben. – Halt, nicht nach hinten umfallen!“ Die Frau wandte sich von Sophus ab und hantierte mit irgendetwas herum. Sophus vermutete, dass sie mit einem Zauberstab verdeckt Beschwörungen ausgeführt hatte, denn als sie sich wieder umwandte, präsentierte sie dem Patienten zwei Krücken.

 

Sie trat an Sophus heran, ließ ihn die Krücken nehmen und ging wieder ein paar Schritte zurück.

 

„So“, sagte sie. „Jetzt kommen Sie bitte auf mich zu. Vorsichtig, immer einen Schritt nach dem anderen. – Na, aber, nicht schleichen. Wenn man geht, hebt man die Füße an. Ja, so ist es schon besser.“ Kurz bevor Sophus die Frau erreicht hatte, spazierte diese leichten Schrittes an ihm vorbei, nahm am Bett Aufstellung und erklärte: „So, und wieder zurück. Gerade halten beim Gehen. Kein Hohlkreuz!“

 

Ein paar Mal wanderte Sophus in seinem Krankenzimmer auf und ab.

 

„So jetzt machen wir einen etwas weiteren Spaziergang. Folgen Sie mir.“ Die Frau öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus, Sophus folgte ihr langsam hinterdrein.

 

„Wir wollen doch einmal sehen, ob Sie wirklich beide Krücken brauchen. Halten Sie sich bitte mit der rechten Hand am Türpfosten fest. Gut.“ Die Frau hob die Gehhilfe auf, die Sophus fallen gelassen hatte.

 

„Und jetzt an der Wand entlang den Gang hinauf gehen. Dort warten Sie bitte, bis ich ihnen helfe, sich umzuwenden und die Krücke in die andere Hand zu nehmen. Werden Sie bloß nicht übermütig. Versuchen Sie es nicht allein.“ Das wäre Sophus im Traum nicht eingefallen. Seine Beine schmerzten bei jedem Schritt. Es war ein Gefühl, als zögen unsichtbare Hände sie in die Länge.

 

Kurz bevor er Lyras Arbeitszimmer erreichte, wurde dort die Tür geöffnet und Saphira trat auf den Gang. Aus dem Inneren ertönte Musik. Dieses Lied erkannte Sophus sofort, obwohl es lang vor seiner Geburt geschrieben worden war. Der Grund dafür war, dass seine Mutter ihm wieder und wieder erklärt hatte, sie und sein Vater hätten sich bei diesem Song kennengelernt. Es gehörte zu jenen wenigen Liedern, die sowohl bei Zauberern als auch bei Muggeln erfolgreich gewesen waren. Bei den Zauberern träumten die verliebten Pärchen in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts zu „Wandlight“ von den Squibb-Brüdern, in der Welt der Muggel tourten diese als Brüder Gibb, wesentlich bekannter als BeeGees, durch die Welt und das Lied hießLamplight“.

 

Wie ein Pfeil durchbohrte der romantische Text Sophus‘ Herz. Er stand da, als hätte ihn ein Lähmungszauber getroffen.

 

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, hörte er Saphira fragen.

 

„Ja, geh bitte.“ Das war Lyras Stimme. Und dann hörte man nur die klagende Stimme eines der Sqibb-Zwillinge, die sang: „Wandlight keep on burning while this heart of mine is yearning …“

 

“Keine Müdigkeit vortäuschen”, erklang hinter Sophus die fordernde Stimme der Krankengymnastin.

 

„Hallo Cleo“, rief Saphira zu der hinüber. „Wie macht sich der Patient?“

 

„Ist noch ein bisschen träge, aber das bekommen wir hin, nicht wahr?“

 

Sophus nickte. Die Tür zu Lyras Zimmer hatte sich wieder geschlossen, doch in seinem Kopf fuhr die Liedzeile weiterhin Karussell. Ja, auch sein Herz sehnte sich. Er hatte manches Mal mit seinem Zauberstab in der Hand an der Werkbank gesessen und nur von Lyra geträumt, ohne sonst etwas aus seiner Umwelt wahrzunehmen.

 

An seiner Werkbank … seine Werkbank … Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er in der Besenbinderei Bescheid geben musste, wenn sie ihn nicht bis zum Abend wieder in Ordnung hatten bringen können. Und laut Saphiras Worten dauerte es eher eine Woche.

 

„Weitergehen, weitergehen“, drängelte die Stimme hinter ihm. „Ich habe nichts von Pause gesagt. Ihre Muskeln wollen belastet werden, damit sie wieder wachsen können.“

 

Eine halbe Stunde marschierte Sophus auf dem Gang der Station herum. Dann durfte er sich in sein Zimmer zurückbegeben. Als er wieder im Bett lag und glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben, begann die Massage. Nach Sophus Meinung wäre Folter das korrekte Wort gewesen.

 

Cleo knetete und zerrte an seinen schmerzenden Beinen herum, klopfte auf die Muskeln des Oberschenkels ein, wie auf ein Schnitzel und drehte, die Gliedmaßen in Winkel, die er niemals für möglich gehalten hätte.

 

„Das war doch schon sehr gut“, sagte sie, kurz bevor sie sich verabschiedete.

 

„Was ist ihnen eigentlich zugestoßen? Von einem Felsen gefallen?“, wollte sie danach wissen.

 

„Absturz mit einem Besen“, erklärte Sophus wahrheitsgemäß.

 

„Äh …“ Cleo war sprachlos. „Das wissen Sie noch?“

 

„Ja, warum nicht.“

 

„Ich dachte, Lyra hat ihre Experimente … oh … also ich meine Frau Dr. Bascomb …“ Cleo stotterte hilflos herum. Sie wusste nicht recht, wie sie sich einem ihrer Meinung nach wissenden Muggel gegenüber verhalten sollte.

 

„Sie können ruhig Heilerin sagen, ich bin kein nichtmagisch Begabter. Ich bin Besenbinder.“

 

„Aber das ist doch die Muggelstation. Was wollen Sie da hier?“

 

Sophus, der sich sicher war, Cleo würde sowieso Saphira ausquetschen, wenn er ihr nicht alles beichtete, berichtete also von seinem Versuch, Lyra seine Liebe zu beweisen.

 

„Wird ja mal Zeit“, sagte sie, als er geendet hatte.

 

„Was meinen Sie?“

 

„Lyra vergräbt sich lang genug hinter ihrem Schreibtisch, hört diese verdammte Schnulze und heult.“

 

Sophus schaute die Krankengymnastin interessiert an.

 

„Das geht jetzt seit zwei Jahren so. Seit Heiler Hecht nach Australien gegangen ist. Im ganzen Haus hieß er nur ‚Toller Hecht‘. Alle Heiler- und Helferinnen waren scharf auf ihn. Lyra war seine Auserwählte. Es war so offensichtlich, dass er nur seinen Spaß haben wollte, aber sie war ja ganz hin und weg. Und dann hat er am Uluru eine Stelle bekommen. Hat natürlich keinen Augenblick gezögert.“

 

„Hätte Lyra nicht mitgehen können?“

 

„So hatten sie es geplant. Er wollte ihr einen Posten beschaffen. Hat es hoch und heilig versprochen. Sie hätte ihm einen unbrechbaren Schwur abverlangen sollen, dem falschen Hund. In den ersten Wochen hat er sich ein paar Mal gemeldet. Seine letzte Mitteilung war, dass er sich unsterblich in die Chefheilerin verliebt hätte. Nach oben schlafen, nenne ich das. Lyra war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hat einen Monat lang fast nichts gegessen. Saphira wollte sie verhexen, damit sie diesen Armleuchter vergisst. Und Sie?“

 

„Was ist mit mir?“

 

„Wären Sie ihr treu? Wenn nämlich nicht, müsste ich ihnen alle Knochen im Leib einzeln brechen. Das ist keine leere Drohung. Seien Sie gewiss.“

 

„Sie haben da etwas falsch verstanden“, sagte Sophus. „Ich liebe Lyra. Sie liebt mich nicht.“

 

„Das wird schon, das wird schon.“ Cleo tätschelte Sophus rechtes Bein.

 

„Haben Sie eigentlich zugehört, was ich erzählt habe. Ich wollte sie mit Eroteria für mich gewinnen.“

 

„Na und, in der Liebe und im Krieg sind alle Mittel erlaubt. Ich denke, Lyra braucht endlich wieder diese spezielle Art von Krankengymnastik, die die trüben Gedanken an verflossene Liebschaften vertreibt. Auf, nieder, auf, nieder.“ Cleo lachte schallend, als sie Sophus entsetztes Gesicht sah. „Jetzt habe ich Sie aber erschreckt, was? Ich bin nicht Lyra. Ich bin mehr für das Körperliche. Wenn Sie wieder fit sind, können Sie ja mal auf Station vier vorbeikommen.“ Sie lachte noch immer, als sie das Zimmer verließ.

 

Am Abend brachte Markus Adamczyk Sophus das Essen ans Bett. Nachdem er sich hatte stärken dürfen, harrte eine weitere Untersuchung seiner. Heiler Adamczyk nahm sich hauptsächlich seine Beine vor.

 

„Wann kann ich wieder raus?“, fragte Sophus.

 

„Sieht zwar schon ganz okay aus, aber vor Mittwoch auf keinen Fall“, antwortete der Heiler.

 

„Dann muss ich meinem Meister Bescheid geben. Es gibt nur ein Problem, ich habe keinen Zauberstab. Meine Bestrafung – Sie wissen sicher Bescheid.“

 

„Geben Sie mir den Namen, dann schicken wir eine Eule. Die ist morgen früh bequem unten in Wernigerode.“

 

„Danke, das ist nett.“ Sophus nannte den Namen seines Chefs. „Sagen Sie, kann man hier was zu lesen bekommen? Wenn ich nur hier liegen und ab und an den Gang hoch und runter laufen soll, dann sterbe ich glatt vor Langeweile.“

 

„Wir haben hier ein paar Muggelbücher. Ansonsten kann ich ihnen nur die ‚Hermine‘ anbieten oder Fachbücher und -zeitschriften über Muggelkrankheiten und deren Behandlung.“

 

„Sind da auch welche von Lyra dabei?“

 

„Ein Buch hat unsere Chefin bis jetzt nicht geschrieben. Aber ein paar Artikel in ‚Muggel heilen heute‘ und ‚Heilen mit Magie‘. Wollen Sie das wirklich lesen? Ich meine …“ Heiler Adamczyk sagte nicht, was er meinte, aber Sophus vermutete, er hielte ihn einfach für zu dumm, diese Fachtexte zu verstehen. Und wenn Sophus ehrlich war, hatte der Heiler mit dieser Annahme sicherlich recht.

 

„Ich würde das sehr gern lesen“, sagte er dennoch. „Auch wenn ich sicherlich nicht alles begreife.“

 

Heiler Adamczyk zuckte nur mit den Schultern und ging. Kurze Zeit später kam er mit einem Stapel Zeitschriften zurück. Oben auf diesem lag außerdem ein dickes Buch.

 

„Ich habe ihnen zusätzlich ‚Der Muggel‘ mitgebracht. Das ist unsere Bibel der Heilkunst.“ Er legte Zeitschriften und Buch auf einen Stuhl neben Sophus‘ Bett. „Viel Spaß mit der Lektüre. Wenn Sie darüber nicht einschlafen, sind Sie für Lyra wie geschaffen.“

 

Sophus blieb zurück, griff nach einer der Zeitschriften, blätterte zunächst ziellos darin herum und las die Überschriften.

 

„Nebenwirkungen von Illusionierungstränken“, hieß es da und: „Der Scheingips und seine Anwendung“. Dann fand er einen Artikel, der mit Lyra Bascomb unterzeichnet worden war. Der Titel lautete: „Illusionierung – pro und contra.“ Sophus begann zu lesen. Zehn Minuten später war er eingeschlafen.

 

Er erwachte mitten in der Nacht, da seine Blase drückte. Mühsam richtete er sich auf, musste sich aber eingestehen, dass er es nicht allein ins Bad schaffte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu läuten. Ein Zebraflamingo erschien und half ihm auf dem Weg hin und zurück.

 

Sophus konnte nicht sogleich wieder einschlafen. Nach dem Weg schmerzten seine Beine wieder und hielten ihn wach. Also nahm er die Zeitschrift wieder zur Hand, die auf seinem Bett lag, und las ihm Schein der Nachtlampe über seinem Bett.

 

Er verstand längst nicht alles, was in dem Artikel ausgeführt worden war, aber die Quintessenz erkannte er. Es war unter Umständen gefährlich, die Erinnerung von Muggeln so stark zu verändern, dass ihnen ihr Zusammentreffen mit der Zauberei nicht mehr bewusst war. Die Betroffenen konnten Erinnerungsblitze, sogenannte Flashbacks, erleiden und dann von Ihresgleichen für verrückt gehalten werden. Schlimmer noch, sie konnten selbst annehmen, wahnsinnig geworden zu sein, und aus dieser Annahme heraus unüberlegt handeln. Als Sophus so weit gekommen war, legte er die Zeitschrift zur Seite und schlief erneut ein.

 

Am nächsten Tag gab es Krankengymnastik gleich nach dem Frühstück. Sophus musste mitten im Zimmer auf dem Rücken liegend Gewichte mit den Füßen in der Luft balancieren. Dann sollte er eine Art Armdrücken mit Cleo veranstalten, nur dass er statt der Arme die Beine einsetzen musste. Schließlich zerrte die Krankengymnastin an seinen Beinen, als wolle sie ihren Patienten um wenigstens einen Meter verlängern. Wenn Sophus Schmerzen geltend machte, war die Folge lediglich, dass Cleo die jeweilige Übung intensivierte.

 

„Schmerz ist gut“, sagte sie. „Schmerz zeigt, dass der Körper reagiert.“

 

Für Sophus Geschmack reagierte sein Körper zu heftig.

 

Nach dem Mittagessen konnte er sich wieder den Zeitschriften neben seinem Bett widmen. Er las einen Artikel mit dem Titel „Warum wir Muggel illusionieren“, der eine Antwort auf einen von Lyras Beiträgen darstellte. Sophus fand, der Schreiber habe sich zynisch und herablassend sowohl über Lyra als auch über nichtmagisch Begabte (inzwischen dachte Sophus bereits in dieser Kategorie) geäußert. Wenn Letztere nach einer Illusionierung Probleme hatten, war das ihr Problem, nicht das der Zauberer. Viel mehr stand in diesem Artikel nicht zu lesen.

 

In der gleichen Zeitschrift fand Sophus einen Bericht über ein Muggelpärchen, das durch einen Zufall an einen Portschlüssel gekommen war und diesen im falschen Moment berührt hatte. Sie hatten sich plötzlich in Frankreich wiedergefunden und einen schweres Schock erlitten. Der Mann war durch das Dorf gerannt und hatte immer wieder „Wo sind wir? Wo sind wir?“ geschrien.

 

Eine französische Heilerin berichtete über die sanfte Illusionierung des Paares, der man einen Urlaubsaufenthalt in den französischen Alpen suggerierte. Man konnte sie zunächst glücklich und geheilt nach Deutschland zurückbringen.

 

Allerdings endete die Geschichte an dieser Stelle leider nicht. Erstens wurde der Mann von seiner Firma gefeuert, da er über eine Woche ohne Angabe von Gründen nicht zur Arbeit erschienen war, und keine plausible Erklärung abgeben konnte, wieso es ihn plötzlich überkommen hatte, Ferien in den Alpen zu machen, anstatt zu arbeiten. Zweitens trennte sich das Paar, da die Erinnerungen beider Partner nicht exakt übereinstimmten, und die Frau den Mann verdächtigte, eine Affäre zu verheimlichen. Das Ende vom Lied war, dass der Mann zum Trinker und obdachlos geworden, vermutlich inzwischen sogar verstorben, war.

 

Trotz des unglücklichen Ausgangs der Geschichte war der Artikel mit „Eine gelungene Illusionierung“ überschieben. Sophus schüttelte ungläubig den Kopf. Er fragte sich, wann eine solche Behandlung wohl als misslungen betrachtet wurde.

 

Kurz vor dem Abendessen wurde es auf dem Flur vor seiner Tür unruhig. Man hörte eilige Schritte. Eine Frau rief: „Lasst mich. Lasst mich zu ihm.“

 

Etwas oder jemand polterte gegen die Tür des Krankenzimmers. Dann hörte Sophus Lyra, die laut „Stupor“ rief.

 

‚Meine Güte, was könnte Lyra dazu treiben, jemanden magisch zu lähmen?‘, fragte er sich.

 

„Da rein“, hörte er ihre Stimme befehlen.

 

Dann ging die Tür auf und Markus erschien im Rahmen. Er hielt die Beine einer Frau. Lyra folgte. Sie trug die Bewusstlose miz ihren Händen unter deren Achseln. Gemeinsam schleppten die beiden die Unbekannte bis zu einem der freien Betten und legten sie dort ab.

 

Lyra schaute zu Sophus hinüber und zeigte ein grimmiges Gesicht. Auch Markus schaute ihn plötzlich an, als habe er etwas verbrochen – zugegeben, offiziell entsprach das den Tatsachen, aber Sophus hatte es immer anders gesehen. Wenn er an die Krankengymnastin dachte, so stand er mit dieser Meinung wohl nicht allein.

 

„Was hat die Frau?“, fragte er zaghaft.

 

„Kannst du dir das nicht denken“, fauchte Lyra. Sie trat dicht vor sein Bett und blitzte ihn an. „Schau sie dir an. Schau dir an, was Liebestränke anrichten.“

 

Sophus blickte Lyra ins Gesicht und stellte fest, dass da nicht nur Zorn in Lyras Augen war, sondern auch Tränen.

 

„Aber … aber …“, er wollte sagen, dass es bei seinen Versuchen mit diesen Tränken nie Probleme gegeben hatte, verkniff es sich dann aber.

 

„Schlecht gebrautes Eroteria“, meldete sich Markus zu Wort. „Eindeutig zu viel Senfsaat und vermutlich übermäßig Spanische Fliege. Das führt immer zu Flashbacks, zumindest bei den Nichtmagischen.“ In Gegenwart seiner Chefin sagte er nicht „Muggel“, aber das ausführliche „Nichtmagisch Begabte“ wollte ihm nicht über die Lippen.

 

„Was werdet ihr mit ihr machen?“

 

„Entgiftung, Illusionierung – die übliche Prozedur.“

 

Lyra schaute strengt zu Markus. ‚Was geht ihn das an?‘, hieß dieser Blick.

 

Sie ging zu ihm hinüber und half, die Frau bequem zu betten. Währenddessen redete sie leise auf den anderen Heiler ein. Sophus konnte nicht verstehen, was sie sagte, dachte sich aber, sie hielte ihm wohl eine Standpauke, damit er in Zukunft nicht so viel über ihre Behandlungsmethoden schwatzte.

 

Das Abendessen wurde verspätet serviert. Markus erschien im weißen Kittel. Er stellte ein Tablett vor Sophus ab und trug ein weiteres zu der neuen Patientin, die schlief, als hielte sie Winterschlaf. Er stellte es auf den Nachtschrank neben dem Bett und ging.

 

Etwa eine Stunde später erwachte die Frau. Nachdem sie völlig zu sich gekommen war, richtete sie sich im Bett auf, schaute sich erschrocken im Raum um und fragte schließlich: „Wo bin ich?“

 

„In einem Krankenhaus“, erklärte Sophus.

 

„Was tue ich hier?“ Sie sah an sich hinunter, wohl um festzustellen, ob sie irgendwelche Verletzungen erkennen könne.

 

„Das müssen Sie die Heiler … Ärzte fragen. Als man Sie hereingetragen hat, waren Sie bewusstlos.“

 

„Ich kann mich an gar nichts erinnern.“ Die Frau schaute aus großen, dunklen Augen hilflos zu Sophus hinüber. „Ich erinnere mich, dass ich in Bad Harzburg vor dem Casino stand. Danach ist alles wie weggewischt.“

 

„Das hört sich nicht gut an. Aber ich bin sicher, hier bekommt man Sie wieder hin. Ich heiße übrigens Sophus, Sophus Schlosser“, stellte er sich vor.

 

„Marie, Marie Brandauer“, sagte die Frau und dann kam ihre Stimme wie in Trance: „Ich wollte Frank besuchen.“

 

„Im Casino?“

 

„Er ist Croupier. Ich liebe ihn.“ Die Sätze kamen aus dem Mund mit den blassen Lippen, als hätte sie diese auswendig gelernt. Dann riss sie ihre Augen weit auf. „Ich muss zu ihm.“ Eilig wollte sie die Beine über die Bettkante schwingen.

 

„Warten Sie“, sagte Sophus. „Sie bleiben besser hier. Ich läute mal nach einem Arzt oder einer Schwester. Die können ihnen sicher helfen.“ Sophus nutzte die Begriffe aus der Muggelwelt ohne Probleme, da sie ihm durch seine Eroberungen in Wernigerodes Bars vertraut waren. Er war zumindest von einer Krankenschwester persönlich behandelt worden, und hatte ihr heilende Hände attestiert.

 

Markus erschien auf Sophus‘ Läuten im weißen Kittel.

 

„Ah, Frau Brandauer, schön, dass Sie wieder bei Bewusstsein sind. Wie geht es uns denn jetzt?“ Bei diesen Worten zeigte er ein falsches Lächeln, das Sophus mit Politikern bei Fernsehinterviews assoziierte.

 

„Gut, Herr Doktor, es geht mir wieder gut. Ich möchte bitte gehen.“

 

„Frau Brandauer, das geht nicht so schnell. Wir müssen Sie erst gründlich durchchecken, um uns ein Bild darüber machen zu können, was ihnen fehlt. Ihr Plexus ist offenbar völlig außer Kontrolle und ihr Appendix macht uns zusätzlich Sorgen. Außerdem ist da die Systole – Sie verstehen sicher, dass wir Sie da nicht einfach entlassen können.“

 

Sophus konnte ein Kichern bei diesem Ärztesprech nur schwer unterdrücken.

 

„Aber ich muss zu Frank. Er wird mich vermissen. Er liebt mich genauso sehr wie ich ihn. Er kann nicht ohne mich leben. Das hat er mir so oft gesagt.“

 

„Wirklich?“ Jetzt schaute Markus interessiert auf die Patientin.

 

„Ja, natürlich, was denken Sie denn? Außerdem geht es Sie nichts an. Ich will jetzt entlassen werden.“

 

„Wie ich schon sagte, das ist nicht möglich. Essen Sie erst einmal etwas und trinken Sie vor allem ihren Tee. Sie müssen viel trinken. Das ist bei ihrem Zustand sehr wichtig.“

 

‚Ah, im Tee ist das Gegenmittel‘, ging Sophus durch den Kopf.

 

„Ich will keinen Scheiß-Tee, ich will Frank“, kreischte die Frau plötzlich reichlich unmotiviert auf. Sie wollte nach dem Tablett greifen, vermutlich um damit nach Markus zu werfen.

 

„Marie“, sagte Sophus leise, aber bestimmt, „Sie sind in guten Händen. Dies ist ein erstklassiges Krankenhaus. Hier gibt es sonst fast nur Privatpatienten.“

 

Mit dem Tablett in der Hand verharrte Marie. Die Erwähnung von Privatpatienten änderte offenbar ihre Sicht auf die Umgebung. Das Tablett sank auf den Nachtschrank zurück.

 

„So, wie heißt dieses Krankenhaus?“

 

„Klinik Drei Annen“, kam Sophus dem Heiler mit einer Antwort zuvor.

 

„Habe ich noch nie gehört.“

 

„Spezialklinik“, erklärte Sophus. „Ich frage mich, wie Sie es geschafft haben, hier eingeliefert zu werden. Ist eigentlich nur für Filmstars und andere wichtige Leute reserviert. Vielleicht begegnen Sie ja Till Schweiger oder so.“

 

Bis zur Erwähnung des Frauenschwarms war alles in Ordnung gewesen, aber dessen Name fachte Maries Erinnerung an ihren Geliebten wieder an.

 

„Ich brauche keinen Till Schweiger, ich habe Frank. Nein, der ist nicht hier. Ich will aber zu Frank. Ich muss zu ihm.“

 

„Vielleicht kann man ihn einfliegen lassen“, sagte Sophus.

 

„Ein – fliegen?“

 

„Ja, klar, mit solchen primitiven Sachen wie Krankenwagen gibt man sich hier nicht zufrieden. Hier werden Patienten immer eingeflogen.“

 

Marie machte große Augen. Diese Eröffnung war tatsächlich starker Tobak. Und sie stimmte sogar. Praktisch alle Patienten und Besucher kamen entweder per Besen oder apparierten auf dem Dach.

 

Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann wandte sie sich an Markus: „Kann ich wenigstens telefonieren? Ich möchte Frank Bescheid geben, wo ich bin. Er wird mich sonst verzweifelt suchen.“

 

„Kein Netz, leider“, sagte Markus.

 

„Sie müssen hier doch Telefon haben. Das ist ein Krankenhaus.“

 

„Natürlich“, erwiderte Markus, der vermutlich nie zuvor ein solches Gerät in der Hand gehalten hatte. „Aber unsere Anschlüsse sind für Notfälle, nicht für die Patienten. Tut mir leid.“

 

„Und wie gebe ich Frank Bescheid, wo ich bin?“

 

„Das machen wir per Eu… Telefon. Wir rufen ihren Frank an, wenn wir sicher sind, dass Sie Besuch empfangen können. Geben Sie mir einfach seine Nummer.“ Markus reichte Marie einen Stift und Papier aus der Brusttasche seines Kittels.

 

Marie kritzelte die Nummer eilig auf den Zettel, gab ihn gemeinsam mit dem Stift zurück und sagte: „Aber gleich anrufen, bitte.“

 

„Wenn wir wissen, dass Sie Besuch haben können“, erwiderte Markus. „Aber nicht mehr heute Abend. Jetzt wird schön gegessen, Tee getrunken und dann geschlafen. Sie wollen doch fit sein, wenn ihr Frank sie besucht.“

 

Nach dieser erneuten Ansprache ging Markus zu Sophus hinüber und untersuchte ihn beiläufig. Dabei beugte er sich zu dessen Ohr hinunter und flüsterte: „Arme Frau, dieser Frank existiert nur in ihrem Kopf.“

 

„Das habe ich vermutet“, sagte Sophus laut. „Tut auch noch reichlich weh.“

 

Markus richtete sich auf, blickte Sophus streng an und sagte: „Na, dann überlegen Sie sich in Zukunft vielleicht besser, was für Experimente Sie anstellen.“

 

Nach dieser Rüge ging er hinaus.

 

„Experimente? Sind Sie Wissenschaftler?“ Marie schaute interessiert zu Sophus hinüber.

 

„Nein.“ Sophus fragte sich, ob er seine Automechaniker-Masche abziehen oder die Wahrheit sagen sollte. Er schaute kurz auf die Zeitschriften, die neben seinem Bett lagen, und entschied sich. „Besenbinder“, erklärte er.

 

„Was macht ein Besenbinder für Experimente?“

 

„Wir unterhalten uns später“, sagte Sophus. „Sie müssen jetzt erst einmal was essen und trinken, damit Sie wieder zu Kräften kommen.“

 

Er lehnte sich zurück und nahm eine der Zeitschriften zur Hand. Er faltete sie so, dass Marie das Deckblatt nicht lesen konnte, und vertiefte sich in einen Artikel über die Anwendung von Bilsenkraut bei Verletzungen durch Einhörner. Er fragte sich, warum man so einen Artikel in einer deutschen Zeitschrift fand, wo doch hierzulande die Einhörner im I.-Weltkrieg ausgestorben waren. Die Wesen mit der zarten Seele hatten diese Gewaltorgie nicht überlebt.

 

Als Sophus kurz aufsah, setzte Marie gerade die Teetasse an ihren Mund. Der Tee machte Marie offenbar schläfrig. Mit der Tasse in der Hand nickte sie ein. Das Tablett, das sie auf ihrem Schoß platziert gehabt hatte, rutschte vom Bett und schepperte zu Boden. Marie reagierte lediglich mit einem leichten Zucken, dann begann sie, leise zu schnarchen.

 

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