Wie Sophus einen Balzflug unternimmt

Sophus leidet unter seiner unerfüllten Liebe zur Heilerin Lyra Bascomb. Er macht sich auf zur Heilerstation in den Hohne Klippen, um seiner Angebeteten seine Gefühle zu offenbaren, stößt aber nur auf Ablehnung. Verzweifelt entschließt er sich zu einer drastischen Maßnahme, die seine Flugfähigkeiten auf dem Besen auf eine harte Probe stellt. Viel Spaß in den Lüften des Harzes!

Die ersten Tage seiner Strafe verbrachte Sophus wie in Trance. Er stand in der Früh zur gewöhnlichen Stunde auf, erledigte seine Morgentoilette, frühstückte und ging anschließend zur Arbeit. Dort reparierte er den ganzen Tag lang Besen, bis sein Chef ihm sagte, es sei Feierabend. Dann begab er sich nach Hause, taute eine Tiefkühlpizza auf, aß lustlos und ging zeitig zu Bett. Und in all diesen Stunden verzehrte er sich nach Lyra.

 

Er sah ihr Spiegelbild in den Schaufenstern der Geschäfte, hörte ihre Stimme im Vogelgesang des Parks. Ihr Gesicht formte sich aus den Balkenornamenten der Fachwerkhäuser. Wenn er Schritte hinter sich vernahm, fuhr er herum, und einmal hatte er sogar bereits die Arme ausgebreitet, um ihren bezaubernden Körper zu umfangen, aber jedes Mal waren nur Fremde hinter ihm.

Er träumte von ihr. Mal waren es sanfte, romantische Träume in denen sie Hand in Hand durch die Breite Straße liefen und sich vom Strom der Touristen zum Rathaus treiben ließen, mal waren es wilde Träume der Lust, in denen sie auf einer einsamen Waldwiese all die Dinge taten, die Liebende zu zweit tun. Egal welche Art Traum Sophus jedoch plagte, immer war er feucht, denn die erste Art endete stets mit Tränen und die zweite … naja.

Einmal hatte Sophus den halben Tag an seinem Arbeitsplatz gesessen und Lyras Gesicht in das Holz seiner Werkbank geschnitzt. Er war nicht besonders geschickt mit dem Messer, aber am Ende doch sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Sein Chef hatte ihn angeschrien, ob er verrückt sei. Sophus war einfach in Tränen ausgebrochen und der Meister hatte sich kopfschüttelnd abgewandt.

„Scheiß Liebeskummer, ausgerechnet der beste Geselle“, hatte er gebrummt.

Sophus war nicht mehr bewusst, dass er eine Strafe verbüßte, all der Schmerz in seiner Seele nur die Folge eines Zaubertrankes war. Er musste Lyra wiedersehen. Nur das zählte.

In der zweiten Woche hielt er es nicht mehr länger aus. Er würde Lyra aufsuchen – am Wochenende. Er wusste zwar nicht, wo sie wohnte, aber immerhin kannte er ihren Namen und sie hatte erklärt, dass sie als Heilerin in der Station „Drei Annen“ arbeitete. Dort konnte er sie aufsuchen. Damit gab überhaupt kein Problem. Er dachte in seinem benebelten Zustand nicht darüber nach, dass er ihren Dienstplan nicht kannte. Sie konnte am Wochenende frei haben, konnte gerade ihren Urlaub verbringen. All das kam ihm nicht in den Sinn. Er würde sie besuchen, sie wäre da und schlösse ihn in die Arme. Sie musste doch verstehen, wie sehr er sich nach ihr verzehrte.

Am Samstag machte sich Sophus frühzeitig auf den Weg zum Bahnhof der Brockenbahn. Er trug einen Besen bei sich, um das letzte Stück fliegend zurückzulegen, denn direkt in der Stadt aufzusteigen, wäre unbedacht gewesen. Die Gefahr beobachtet zu werden, war am helllichten Tage zu groß.

 Gemeinsam mit einer Schar Touristen machte er sich auf zur Fahrt hinauf in den wilden Teil des Harzes.

„Schau mal Mutti, ein Zauberer.“ Ein Mädchen deutete mit ausgestrecktem Arm auf Sophus und seinen Besen.

„Verzeihen Sie“, die Mutter lächelte entschuldigend. „Sie liest gerade diese Geschichte über diese Zauberschule - Howards.“

„Ist doch nicht schlimm.“ Sophus lächelte zurück, auch wenn sein Herz gerade wieder einige heftige Schläge zusätzlich ausführte. Hogwarts lag in Schottland, der Heimat Lyras. Hatte sie nicht sogar gesagt, sie käme aus dem Norden des Landes. Vielleicht hatten ihre Eltern ja sogar in Hogsmeade gelebt. Immer wieder kreisten seine Gedanken um diese wunderbare Frau.

Am Bahnhof „Drei Annen Hohne“ verließ er den Zug. Er folgte dem Weg zu einem Wanderparkplatz und weiter ein Stück in den Wald hinein. Als er schließlich sicher war, unbeobachtet zu sein, machte er den Besen startklar und flog in Richtung Heilerstation davon.

Das Gebäude war plump und hässlich. Die klotzige Würfelform passte nicht in die romantische Umgebung des Hochharzes. Die fünf Stockwerke ragten weit über die Wipfel der Bäume hinaus. Die ehemals weiße, inzwischen schmutzige Fassade erinnerte eher an ein Gefängnis als ein Krankenhaus. Vor den meisten Fenstern waren die grünen Vorhänge zugezogen. Es gab nur welche in dieser einen Farbe. Abwechslung war Mangelware.

Das Gebäude war, das hatte Sophus zuvor nachgelesen, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden. Die Zauberer hatten die Nähe zur ehemaligen Grenze als ideale Voraussetzung für die Geheimhaltung gefunden. Leider orientierte man sich bei der Gestaltung des Gebäudes an der aktuellen Bauweise der in dieser Gegend lebenden Muggel. So war dieser Schandfleck entstanden, der in dieser Dekade abgerissen und durch ein neues Bauwerk ersetzt werden sollte, falls das Bundesamt die Mittel bereitstellte. Sophus konnte sich gut vorstellen, was das bedeutete.

Er kreiste zwei Mal über dem Dach. Auf der linken Seite gab es dem Brocken zugewandt einen Landeplatz. Ein großes rotes Kreuz markierte ihn. Sophus ging tiefer und ließ sich schließlich an der vorgesehenen Stelle hinab.

Nicht weit vom Landeplatz gab es einen Dachaufbau mit zwei Türen, die zum Treppenhaus führten. Daneben stand ein Ablageregal für Besen, wie man sie häufig an öffentlichen Gebäuden der Zaubererschaft sah. Sophus nahm seinen Besen und schritt beherzt darauf zu. Er legte ihn auf einen freien Platz im Regal. Dann wandte er sich den einer der Türen zu.

Gerade als er nach der Klinke greifen wollte, flog diese auf, zwei Zauberer in grünen Umhängen, jeder mit einem Besen bewaffnet, stürzten heraus.

„Wo?“, hörte Sophus den einen fragen.

„Ottofelsen“, antwortete der andere.

„Immer dasselbe.“ Der Frager schüttelte den Kopf, dann waren die Zauberer bereits an Sophus vorbei und auf dem Weg zum Startplatz. Offenbar waren sie zu einem Notfall unterwegs.

Sophus trat ins Treppenhaus und folgte dort den Pfeilen, die mit „Anmeldung“ beschriftet waren. Bald darauf stand er vor einem langen Tresen, an dem zwei ebenfalls grün gekleidete Hexen Dienst taten. Eine von beiden sprach mit einem Mann, der Sophus allenfalls bis zum Bauchnabel reichte. Er trug einen dichten Bart, der an seinen Knien endete, und gestikulierte wild mit den Armen, während er auf die Hexe einredete.

„Leichte Nebenwirkungen“, schnaubte er. „Nennen Sie das leichte Nebenwirkungen?“ Er fuhr in einer fließenden Bewegung mit der Hand von oben bis unten an sich hinab. Offenbar wollte er auf seine geringe Größe aufmerksam machen.

Sophus trat an die andere Frau heran, die vor sich mehrere Pergamente liegen hatte und mehreren selbstschreibenden Federn etwas diktierte. Er räusperte sich, da sie von ihm keine Notiz nahm.

„Largo“, sagte die Dame und schwenkte ihren Zauberstab. Die Federkiele verharrten, sie wandte sich Sophus zu.

„Ja, was kann ich für Sie tun?“

„Ich suche eine Heilerin?“

„Waren Sie schon einmal bei uns?“

„Nein, ich …“

„Dann brauche ich ihre Identifikationsnummer der Heilerkasse“, wurde er unterbrochen.

„Die weiß ich nicht, außerdem …“

„Dann geben Sie mir ihren Zauberstab“, fuhr die Dame sichtlich unzufrieden dazwischen.

„Habe ich nicht bei mir.“

„Sie müssen doch einen Nachweis ihrer Heilerkasse haben“, begehrte die Dame auf. „Das gibt es doch gar nicht. Wäre ja noch schöner, wenn die Kranken hier so mir nichts, dir nichts ohne irgendeinen Nachweis aufkreuzen würden. Wo kämen wir da hin?“

„Ich bin nicht krank.“

„Was wollen Sie dann hier? Tränke-Vertreter?“

„Nein …“ Die herrische Art der Frau hinter dem Tresen machte Sophus, der mit heftig klopfendem Herzen herangetreten war, zusätzlich nervös. „Ich … ich habe persönliche Gründe.“

Jetzt verfügte er über die ungeteilte Aufmerksamkeit der Frau. Sie sah von den Pergamenten auf, die die ganze Zeit des bisherigen Gesprächs ihren Blick gefesselt hatten. Über den Rand einer schmalen Brille fixierte sie Sophus. Was mochte sie denken? Dass er ein ehemaliger Patient war, der sich wegen einer missglückten Behandlung beschweren wollte?

„Mit wem wollen Sie sprechen?“

„Mit Lyra.“

„Lyra und weiter?“

„Den Nachnamen kenne ich nicht. Wir haben uns beim Tanzen kennengelernt. Ich muss sie wiedersehen.“

Die Dame sah ihn weiterhin ernst an.

Dann nahm sie ihren Zauberstab zu Hand und sprach deutlich hinein: „Fidelius Bäcker bitte zur Anmeldung, Fidelius Bäcker bitte zur Anmeldung.“

Sie sah Sophus wieder über den Rand ihrer Brille hinweg an und sagte: „Warten Sie bitte. Gleich kommt jemand, der ihnen weiterhelfen wird.“

„Ich suche keinen Fidelius Bäcker“, fuhr Sophus auf. „Ich suche Lyra. Ich brauche sie. Ich muss mit ihr sprechen, damit sie versteht, wie sehr ich sie liebe.“ Die Worte purzelten regelrecht aus ihm heraus.

Die Dame nickte. „Ja, das habe ich verstanden. Heiler Bäcker wird sie durchs Haus begleiten. Setzen Sie sich bitte dort und warten Sie einen Moment.“ Sie deutete auf ein paar Stühle an der Wand gegenüber dem Anmeldetresen.

Sophus nahm Platz.

Kurze Zeit später kam ein Mann im grünen Umhang an den Tresen und sprach mit der Dame, die Sophus bedient hatte. Auf dem Haupt des etwa Vierzigjährigen zeigte sich eine beginnende Glatze. Ein Schnurrbart, der bereits grau geworden war, wuchs unter einer schmalen Hakennase, die seinem Profil etwas von einem Habicht gab. Er warf einen kurzen Blick auf Sophus, während die Dame von der Anmeldung auf ihn einredete. Kleine, dunkle Augen unter dichten Brauen zeigten Interesse.

Der Mann hörte sich zu Ende an, was die Dame an der Anmeldung berichtete, dann trat er zu Sophus. Er hielt ihm die ausgestreckte Rechte hin und sagte: „Guten Tag, ich bin Heiler Fidelius Bäcker. Wie kann ich ihnen helfen?“

„Ich suche Lyra“, platzte Sophus heraus, erst dann ergriff er die ausgestreckte Hand.

„Aha, Lyra.“ Der Heiler holte einen Zauberstab hervor. „Lumos.“ Mit dem Ende des Stabes leuchtete er in Sophus Augen. „Ich vermute, sie sind in heißer Liebe zu ihr entbrannt?“

„Ja.“ Es war tatsächlich eher ein Keuchen als ein Wort, das aus Sophus Kehle kam.

„Wann haben Sie sich in Lyra verliebt?“

„Gleich am ersten Abend. Ich habe sie gesehen und gewusst: die oder keine.“

„So, so.“ Heiler Bäcker kratzte sein spärliches Haupthaar. „Und wieso suchen Sie diese Lyra hier?“

„Sie ist Heilerin, Sie arbeitet hier.“

Plötzlich machte der Heiler große Augen. „Sie meinen doch nicht etwa Lyra Bascomb?“

„Doch, genau die. Wunderschöne Augen, Haut wie Schokolade – zart und braun und ein Lächeln, das einem das Herz aufgeht.“

„Dann sind Sie wohl der Mann, der ihr einen Liebestrank verpassen wollte?“

Sophus sank in seinem Stuhl zusammen. Es sah aus, als habe jemand einen Schrumpfzauber auf ihn angewandt. „Das war …“ Er wusste nicht weiter.

„… saudumm.“ Heiler Bäcker erhob sich ruckartig. „Ich kann leider nichts weiter für sie tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Heilerin Bascomb Sie unter diesen Umständen sehen will.“

Er ging zur Anmeldung hinüber und sprach kurz mit der Dame dort. Die nickte.

Als Heiler Bäcker sich abwandte, hörte Sophus eine Durchsage: „Anmeldung Code Gold, Anmeldung Code Gold.“

Er wusste nicht, was „Code Gold“ zu bedeuten hatte, aber allein die Tatsache, einen Code zu verwenden, statt eine klare Durchsage zu machen, war bedenklich. Dies und die unmissverständliche Abneigung, die Heiler Bäcker gezeigt, nachdem er begriffen hatte, wer Sophus war, ließen diesen vermuten, dass diese Durchsage mit ihm zusammenhing und keinen guten Ausgang seiner Unternehmung bedeutete.

Er erhob sich, jetzt von beiden Damen an der Anmeldung aufmerksam beobachtet.

„Wo sind die Toiletten?“, fragte er.

Eisiges Schweigen folgte als Antwort.

„Ich müsste dringend mal“, versuchte er es erneut. Dann drehte er sich einfach um und ging an der Anmeldung vorbei, den Gang entlang.

„Halt, warten Sie, da können Sie nicht einfach hin“, rief eine Frauenstimme hinter ihm.

Statt anzuhalten, beschleunigte Sophus den Schritt. Hinter ihm klackten Schuhe mit Absätzen auf den Fliesenboden.

„Warten Sie, bitte“, wurde erneut gerufen.

Gerade als Sophus einen Seitengang erreichte, tauchten aus dieser Richtung vor ihm zwei Männer in blauen Umhängen auf. Man hatte die Auroren gerufen.

‚Klar – Aurum – Gold‘, ging Sophus durch den Kopf.

Eilig bog er in den Gang nach rechts ab.

„Das ist er“, hörte er die Frau hinter sich rufen. Vermutlich zeigte sie mit dem Finger auf ihn. Aber Sophus wandte sich nicht um, stattdessen rannte er jetzt den Gang hinunter. Grüner Korridor, weiße Türen. Ein Schild – Vergiftungsstation. Den Korridor halb blockierend stand ein Wagen mit Kannen und Tassen herum, Sophus packte die Griffe und drehte ihn so, dass er vollends im Weg stand, nachdem er ihn passiert hatte.

„Bleiben Sie stehen, Mann“, hörte er hinter sich jemanden rufen.

‚Keine Chance‘, dachte Sophus, eilte weiter und erreichte eine Tür mit der Abbildung einer Treppe.

Er riss sie auf, stürzte ins Treppenhaus und widmete sich einen Augenblick den Hinweisschildern.

Nach oben ging es nur zum Besenlande- und Apparierplatz. Das Innere von Heilerstationen wurde immer davor geschützt, dort apparieren oder disapparieren zu können. Sophus hastete nach unten, tiefer in die Heilerstation hinein.

„Verletzungen durch magische Tiere und Pflanzen“, „OP“, „Unfallstation“, „Tränkeausgabe“ – Schilder rauschten auf Sophus‘ Weg die Treppe hinab an ihm vorbei.

Schließlich endete die Treppe. Er war im Erdgeschoss angekommen und verfügte nach wie vor über keinen Plan, wohin er sich wenden sollte.

„Muggelstation“ stand an der Tür. Jemand hatte das Wort durchgestrichen und „Station für nichtmagisch Begabte“ in leicht geschwungener und eleganter Schrift daruntergeschrieben.

Das wäre gewiss der passende Arbeitsplatz für Lyra. Sie hatte während seiner Vernehmung deutlich gemacht, dass ihr die Gleichberechtigung der Muggel am Herzen lag. Allein dafür musste man sie einfach lieben. Es war eine Schande, dass ausgerechnet eine Schreckschraube wie Aronia Grünberg diese Bewegung in Deutschland so populär gemacht hatte. Wie viel mehr Zulauf könnten die Muggelisten haben, wenn eine Frau wie Lyra sie anführte?

Hinter ihm auf der Treppe hörte Sophus eilige Schritte. Er fragte sich, ob ihm die Auroren noch immer auf den Fersen waren. Entschlossen stieß er die Tür zur Muggelstation – Station für nichtmagisch Begabte, gewöhn dich dran – auf. Ein weiterer grün gestrichener Korridor erwartete ihn.

Links und rechts waren Türen, die vermutlich in Krankenzimmer führten. In der Mitte des Ganges gab es eine Nische, aus der halb ein Tisch hervorragte, auf dem ein einsamer Apfel lag. Die Station wirkte ansonsten verlassen.

Plötzlich hörte Sophus eine Stimme aus einem Zimmer zur linken.

„Wie kann man seinen Besen einfach herumliegen lassen?“, fragte ein Mann.

„Hat wohl nicht damit gerechnet, dass die Nachbarin in seinem Garten auftaucht. Die ist praktisch über das Ding gefallen, hat ihn aufgehoben und dann saß sie auch schon auf dem Dach. Von da ist sie anschließend schmerzhaft in den Garten zurückgekehrt. Ein Bein war gebrochen, ein paar Rippen geprellt. Dazu der Schock.“ Die Stimme gehörte einer älteren Frau.

„Man hat mit den Muggeln immer doppelt Ärger. Erst muss man sie gesundpflegen und dann zusätzlich dafür sorgen, dass sie alles vergessen.“

„Lass das bloß nicht die Chefin hören.“

Die Klinke an der Tür senkte sich nieder und Sophus, der näher herangetreten war, um besser lauschen zu können, machte einen Satz zurück.

Eine kleine Heilerin mit dicker Hornbrille kam aus dem Raum. Sie sah Sophus erstaunt an.

„Was können wir für Sie tun, junger Mann?“

„Ich möchte mit Heilerin Bascomb sprechen“, sagte Sophus. Er war inzwischen fest überzeugt, hier an der richtigen Adresse zu sein.

„Warum?“

„Es geht um meine Tante. Sie ist eine Muggel.“ Das stimmte sogar. Allerdings wohnten sie und Sophus‘ Onkel in Haldensleben, und sein letzter Besuch bei ihnen lag zwei Jahre zurück.

„Wir behandeln hier aber nur durch Magie verursachte Beschwerden. Sollte sie eine einfache Muggelkrankheit haben, ist sie in einem Krankenhaus besser aufgehoben.“

„Mein Onkel hat ihr eine Überdosis eines Stärkungstrankes verabreicht.“

„Warum bringt ihr Onkel sie dann nicht her?“

„Nun, das ist ein wenig heikel …“ Sophus druckste herum.

„Heraus mit der Sprache!“ Die Heilerin stemmte die Hände in die Hüften und setzte eine Miene auf, die Sophus an eine seiner Lehrerinnen erinnerte.

„Es war sozusagen ein Liebestrank, und nun lässt Tantchen den Onkel nicht mehr aus dem Schlafzimmer.“

Die Heilerin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich weiß nicht warum, aber ich liebe diese fehlgeschlagenen Selbstversuche mit Zaubertränken. Kommen Sie mit. Sie müssen Lyra Bascomb nicht mit solchen Lappalien behelligen.“

„Aber mein Onkel hat gesagt, ich solle unbedingt mit Lyra, Verzeihung Heilerin Bascomb, sprechen. Sie kenne Tantchen gut und werde wissen, was zu tun sei.“

„Wie heißen die Leute?“

„Bernstein, Chlothilde und Franz Bernstein.“

Die Heilerin schnaufte. „Also gut, ich zeige ihnen das Zimmer. Kommen Sie. Heilerin Bascomb bereitet sich auf einen Kongress vor und will eigentlich nicht gestört werden.“

„Auf einen Kongress? Worum geht es da?“ Sophus war neugierig. Seine Lyra war also nicht nur schön und gefühlvoll, sondern auch klug. Sonst würde man sie schließlich nicht zu einer wissenschaftlichen Fachtagung schicken.

„‚Muggel heilen ohne Illusionierung‘. Ganz neue Denkrichtung. Es geht um die Frage, wie wir in Zukunft mit den Muggeln umgehen, ob es heutzutage gerechtfertigt ist, sie ihre Begegnung mit der Zauberei vergessen zu lassen, nachdem wir sie geheilt haben. Sie kennen doch die Artikel von Frau Bascomb, oder?“

Sophus kannte sie nicht, nickte aber dennoch. Er konnte sich Einiges zumindest gut vorstellen.

„Da sind wir“, sagte die Heilerin und deutete auf eine Tür auf Sophus rechter Seite.

„Heilerin Lyra Bascomb – Leitende Heilerin“, stand auf einem Messingschild.

„Warten Sie hier, ich melde Sie an. Frau Bascomb kann sehr unfreundlich werden, wenn sie sich gestört fühlt, besonders bei Männern“, fügte sie hinzu, ehe sie anklopfte.

„Ja.“ Lyras Stimme. Sophus wäre am liebsten gleich mit der älteren Dame gemeinsam in das Zimmer gestürzt.

Die Heilerin öffnete die Tür, steckte den Kopf ins Zimmer und sagte: „Hier ist ein Mann, der wegen seiner Tante kommt. Vergiftung mit Liebestrank, er sagt, Sie kennen die Leute – Bernsteins.“

„Nie gehört. Gut schicken Sie ihn trotzdem rein, Saphira. Ich komm hier gerade sowieso nicht weiter. Wie soll ich Zauberern nur begreiflich machen, dass es für nichtmagisch Begabte besser ist, wieder stärker in die Welt der Magie eingebunden zu werden, dass wir ihnen und uns nichts Gutes tun, wenn wir unsere Fähigkeiten weiterhin geheim halten. Die Zeit der Hexenverbrennungen ist lange vorbei. Wir müssen offen miteinander umgehen. Ach, was jammere ich ihnen etwas vor, schicken Sie mir einfach den Patienten rein.“

„Mach ich. Kopf hoch, Heilerin, Sie schaffen das.“

Saphira zog ihren Kopf aus dem Büro zurück und blickte Sophus an.

„Sie könne hinein, aber nicht zu lange. Heilerin Bascomb hat wenig Zeit.“

Entschlossen schob Sophus die Tür auf und trat in das Büro. Lyra, seine Lyra, saß an einem großen weißen Schreibtisch mit den Fenstern direkt hinter sich. Sonnenlicht flutete herein und erleuchtete ein sparsam dekoriertes Zimmer. An der Wand rechts hingen ein paar Kunstdrucke von Picasso und Brantaforte. Sophus gefiel sowohl der Muggel-, als auch den Zaubererkünstler. Vor dem Schreibtisch standen zwei leere, hochlehnige Stühle, die mit dunkelrotem Stoff bezogen waren. Eine willkommene Abwechslung im ewigen Grün der Heilerstation.

Lyra trug, wie alle Heiler, einen grünen Umhang, der jedoch auf der Vorderseite nicht verschlossen war. Unter ihrem Umhang zeigte sich ein weißes T-Shirt, bedruckt mit einer großen Blume. Sophus dachte einen Moment an den darunter verborgenen, sicherlich ebenmäßigen Busen und atmete etwas schneller. Dann rief er sich zur Ordnung.

„Sie?“, fuhr Lyra ihn an, als sie ihn erkannte. „Was fällt ihnen ein, hier aufzukreuzen und mich bei der Arbeit zu belästigen?“

„Aber Lyra, ich …“

„Raus! Raus!“ Lyra sprang auf. Ihr ausgestreckter Arm deutete zur Tür.

„Nein, Lyra, schick mich nicht weg.“ Sophus war auf die Knie gesunken.

Lyra schrie nicht mehr. Sie stand da und blickte auf ihn herunter, wie er auf Knien zu ihrem Schreibtisch kroch.

„Du siehst mich völlig falsch“, erklärte Sophus. „Ich mag Muggel.“

„Nein, Sie mögen Sex mit Muggeln. Das ist etwas völlig anderes. Haben Sie sich je gefragt, wie diese Frauen sich fühlen, wenn die Wirkung des Trankes nachlässt?“ Lyras Lautstärke hatte sich wieder deutlich gesteigert.

„Äh …“ ‚Nein‘ wollte Sophus nicht sagen.

„Wir haben solche Fälle oft genug auf der Station. Verwirrte Geschöpfe, die sich entweder nach der Liebe eines Mannes verzehren, den sie eigentlich gar nicht kennen, oder die sich selbst als unmoralische, verkommene Weiber sehen, weil sie scheinbar grundlos Sex mit einem Wildfremden hatten.“

„Das habe ich nicht gewusst“, sagte Sophus. Er kniete jetzt direkt zu Füßen von Lyra und sah zu ihr auf, hoffte auf einen freundlichen Blick, aber sie schaute stattdessen streng auf ihn herab.

„Aber jetzt wissen Sie es. Stehen Sie auf. Gehen Sie. Sie werden ein paar Wochen leiden müssen, werden glauben, ohne mich nicht leben zu können. Aber das wird vergehen. Wenn Amortentia seine Wirkung verliert, werden Sie mich vergessen.“

„Ich werde dich niemals vergessen.“ Sophus schlang seine Arme um Lyras Beine.

„Lassen Sie mich los.“

„Lyra, ich liebe dich.“

„Sie wissen doch, dass das alles nur eine Wirkung des Trankes ist. Ihnen muss ich das doch nicht erklären. Es die Strafe für ihr Vergehen.“

„Warum sagst du so etwas? Ich habe dich vom ersten Augenblick an begehrt.“

„Das kommt der Wahrheit sicherlich näher. Begehrt. Sie wollten mich in ein Gebüsch zerren und dort … Jedenfalls hat das nichts mit Liebe zu tun.“

„So war es zu Beginn, aber jetzt wütet dieses Feuer in mir.“

„Alles, was da wütet, sind Sellerie, Bockshorn und Magnesium. Jetzt lassen Sie mich endlich los.“ Lyra gelang es, Sophus‘ Hände von ihrem Körper zu lösen.

Eilig trat sie wieder hinter ihren Schreibtisch und griff dort nach ihrem Zauberstab.

„Gehen Sie freiwillig oder muss ich die Wache rufen?“

„Ich werde gehen“, erklärte Sophus, der noch immer am Boden kniete. „Aber sag nicht immer Sie. Ich bin Sophus, erinnere dich.“

„Sophus, geh.“

Sophus lächelte. „Ich werde dir beweisen, dass es nicht nur ein Trank ist, der in mir brennt.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ das Büro.

Am anderen Ende des Ganges stand die ältere Heilerin und unterhielt sich mit einem jungen Heiler. Als sie Sophus erblickte, zeigte sich eine steile Falte auf ihrer Stirn.

„So, so“, sagte sie, als Sophus an den beiden vorbeiging. „Sie sind also dieser Muggelverführer.“

„Sie sollten nicht lauschen“, erwiderte Sophus.

„Heilerin Bascomb war nicht zu überhören.“

Sophus winkte nur ab und ging durch die Tür zum Treppenhaus. Er musste zurück aufs Dach. Er brauchte seinen Besen.

Wenige Minuten später stand er mit diesem in der Hand am Startplatz. Er nahm seinen Position auf dem Besen ein und startete den Flug. Er würde es Lyra beweisen. Zur Einstimmung flog er ein paar einfache Schleifen, dann beschleunigte er, stieg höher und höher, um sich schließlich am höchsten Punkt der Bahn samt Besen fallen zu lassen. Diese Übung, die die Luft an seinen Ohren vorbeirauschen ließ, wiederholte er einmal. Als er zum zweiten Mal fast senkrecht auf den Boden zuraste, bremste er erst kurz vor dem Aufprall ab, zog den Besen in eine Parallele zum Boden. Er ließ das Reisig am hinteren Ende schleifen, bis es durch die Reibung Feuer fing. Das war eine Übung, die man zur Mitte der Lehre vor den Gesellen vorführen musste und die sich Besenbinderprüfung nannte. Wer sie bestand, durfte fortan an den Trinkgelagen der Gesellen teilnehmen.

Mit brennendem Reisigschwanz zog der Besen in einer Schräge wieder in den Himmel hinauf und zog eine Linie aus Rauch hinter sich her. Es sah fast aus wie bei einem Flugzeug, das einen Kondensstreifen am Himmel hinterlässt. An einigen Fenstern der Heilerstation versammelten sich Patienten und Heiler, um die ungewöhnliche Flugvorführung zu beobachten.

Sophus ließ den Besen in einer scharfen Biegung überrollen. Er hing jetzt kopfunter daran und klammerte sich fest. Die Steuerung des Besens stellte sich in dieser Lage als schwierig heraus, dennoch gelang es ihm, die zwei oberen Bögen einer Herzform in die Luft zu malen.

Wieder ein scharfe Kurve. Er musste als Letztes die abwärtsführende Schräge fertigstellen. Er kletterte etwas mühsam wieder in eine ordentliche Flugposition, während der Besen bodenwärts flog. Hinter ihm prasselte das Reisigfeuer. Der Zauber versagte auf halbem Weg nach unten. Es war einfach zu viel des Reisigs abgebrannt. Für einen Moment fragte sich Sophus, ob er wahnsinnig geworden sei, ein riesiges Herz zu fliegen, nachdem er den Besen in Brand gesetzt hatte.

‚Nein‘, schalt er sich. ‚Das habe ich für Lyra getan.‘

Er wusste nicht, ob sie überhaupt zusah. Nicht einmal ob das Fenster zu ihrem Büro nach dieser Seite ging, war ihm wirklich klar.

 

Immer heftiger riss die Luft an seinen Kleidern, während er Stiel voran zu Boden stürzte. Er versuchte verzweifelt, den Sturz abzufangen, indem er den Stiel in die Waagerechte brachte, aber das erwies sich als eine denkbar schlechte Idee. Schlagartig sackte sein flugunfähiger Besen durch, Sophus prallte auf den Boden. Alles wurde schwarz.

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