Wie Sophus Lyra kennenlernt

In diesem Kapitel lernt Sophus eine junge Frau kennen, in die er sich spontan verliebt. Anders als bei seinen bisherigen Abenteuern fühlt er sich von einem echten Gefühl berührt. Zu seinem Leidwesen macht sich zunächst an anderer Mann an seine Traumfrau heran, aber Sophus wäre kein Zauberer, wenn er sich von einem Muggel so einfach die Butter vom Brot nehmen ließe.

Nachdem er aber einen Liebestrank auch bei dieser jungen Frau zum Einsatz gebracht hat, verläuft der Abend plötzlich in ganz anderen Bahnen als er erwartet hatte. Lesen Sie wie der erste Abend von Sophus und Lyra verläuft.

Es war ein heißer Junitag und Sophus war am Vorabend gerade aus dem Schwarzwald nach Wernigerode zurückgekommen. Er hatte seine Eltern besucht, die an den Seen dort an einem Projekt arbeiteten, das Muggel als Umweltschutzinitiative bezeichnet hätten. Gemeinsam mit Nixen und Wassermännern bemühten sie sich, die Wasser- und so die Lebensqualität der Bewohner der Seen zu verbessern. Dazu mussten sie die Muggel, insbesondere Touristen, von stark geschädigten Quellen fernhalten. Sie waren stets damit beschäftigt, Wege zu verstecken oder umzuleiten, ganze Seen zu verbergen und hin und wieder damit, einfach den Dreck wegzuräumen, den die Muggel, gedankenlos wie sie waren, hinterließen.

Seine Mutter freute sich sehr, ihn wieder einmal in die Arme schließen zu können, bei seinem Vater war die Freude eher verhalten. Er konnte sich noch immer nicht damit abfinden, dass sein einziger Sohn es nur bis zum Besenbinder gebracht hatte. Erst als er ihnen bei recht handwerklichen Arbeiten an einer wilden Abwasserleitung geholfen hatte, zeigte sich ein Lächeln auf dem Gesicht seines alten Herrn.

An diesem Abend wollte Sophus sich für die Strapazen der Reise belohnen. Er hatte eine Portion Eroteria gebraut, die eine Elefantenkuh in Liebesrausch hätte versetzen können und mehrere Phiolen damit gefüllt. So ausgerüstet war er in der Nähe einer etwas außerhalb des Ortes am Wald liegenden Bar hinter einer alten Eiche appariert. Jemand der ihn dort hervortreten sah, würde vermuten, er hätte dort sein Wasser abgeschlagen. Kurz dachte er sogar darüber nach, dies zunächst zu erledigen, um besonders unverdächtig zu erscheinen, aber da er keinen Druck seiner Blase verspürte, ließ er es bleiben.

Die Bar war gut gefüllt, als er ankam. Natürlich waren die Mehrzahl der Besucher junge Paare, die einen angenehmen Abend verbringen wollten. Am Bartresen saßen zwei einzelne Herren, die, wie er, auf der Jagd nach edlem Wild waren. Sophus passierte sie und suchte nach einem freien Tisch, wo er sich zunächst niederlassen und ungestört die Lage sondieren konnte. Er fand einen in der Nähe der Tanzfläche und ließ sich nieder. Es fehlte nur eine passende Frau.

Der Kellner kam, nahm seine Bestellung auf und ging. Dem Butterbier entwachsen sagte Sophus zu einem frischen Pils nicht nein. Als der Kellner es an seinen Tisch brachte, sah Sophus über dessen Schulter hinweg eine junge Göttin über die Tanzfläche schreiten. Oder die schönste Muggelfrau, die er in seinem Leben je gesehen hatte.

Ihre Haut hatte sie Farbe von Milchkaffee. Die Haare waren dunkel, vielleicht sogar wirklich schwarz, aber das war in Anbetracht der typischen Barbeleuchtung nicht zu erkennen. Sie waren kraus, wie dies für Menschen mit dunkler Haut so typisch ist, und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst.

Die Farbe ihrer Augen hatte Sophus nicht erkennen können.  Die Nase war klein und schmal, untypisch für den dunklen Typ. Ihre Wangenknochen erinnerten ihn an das Abbild der Nofretete, das er einmal gesehen hatte. Die Kinnpartie war ein bisschen zu spitz, um als schön angesehen zu werden. Diesen geringen Makel glich der volle Mund mit den zum Küssen einladenden Lippen völlig aus. Das Gesicht der Frau war so faszinierend, dass Sophus es ganz gegen seine Gewohnheit versäumte, ihr auf den Busen zu starren.

Dies war eine Traumfrau – Sophus Traumfrau. Er hatte sie gesehen und wusste im gleichen Augenblick, dass er sie besitzen wollte. Sein Mund war leicht geöffnet. So staunte er sie an wie ein Zehnjähriger einen Schokoladenbrunnen. Es fehlte nicht viel  und er hätte gesabbert.

Sophus folgte der Dame mit den Augen, bis sie sich in einer Nische an einem Tisch für zwei niederließ. Noch war sie allein, doch die Platzwahl legte nahe, dass in Kürze ein männlicher Begleiter auftauchte. Sie hatte sich an einen typischen Tisch für Paare gesetzt.

Es dauerte etwa zehn Minuten, dann ging einer der jungen Männer, die am Bartresen gesessen hatten, zu der kaffeebraunen Schönheit hinüber. Sophus sah ihn lächelnd etwas fragen, und nach der Antwort den freien Stuhl vom Tisch zurückziehen und sich setzen.

War es möglich, dass sie tatsächlich keinen Begleiter erwartet hatte, dass sie selbst auf der Jagd nach einem Abenteuer in diese Bar gekommen war? Und er hatte die Chance verpasst und sie diesem Muggel überlassen, der noch feucht hinter den Ohren war? Sophus verfluchte seine Dummheit. Aber er würde sich nicht so einfach ergeben, versicherte er sich.

Mit Argusaugen beobachtete er die beiden. Der junge Mann hatte einen Cocktail für sich und die Schöne bestellt. Das Getränk war bunt und mit einem Obstspieß verziert. Sie stießen an, schwatzten und lachten. Als der DJ die erste Musik auflegte, waren sie sofort auf der Tanzfläche. Die junge Frau tanzte nicht, nein, sie schwebte über das Parkett. Der Mann wirkte an ihrer Seite elegant wie ein Bergtroll, obwohl er im Grunde kein schlechter Tänzer war.

Sie tanzten ein paar Runden, kehrten an den Tisch zurück. Wieder stießen sie an. Heiße Wellen der Eifersucht durchfluteten Sophus. Er brauchte eine Chance, er benötigte einen Moment, in dem er mit dem jungen Mann allein war.

Endlich geschah das, worauf Sophus die ganze Zeit sehnsüchtig gewartet hatte. Sein Nebenbuhler erhob sich und machte sich auf den Weg in Richtung Toiletten. Sophus folgte ihm. Er wusch sich die Hände, wartete an den Waschbecken, bis der Andere sein Geschäft erledigt hatte und trat hinter ihn, als der sich seinerseits die Hände reinigte.

„Geysirus“, zischte er und zielte sorgfältig mit seinem Zauberstab.

Nichts geschah. Fast nichts. Nur der Muggel wandte sich mit verblüfftem Gesicht zu ihm um und fragte: „Was ist?“

Sophus konnte im letzten Augenblick den Zauberstab hinter seinem Rücken verschwinden lassen. Er sah den jungen Mann betreten an und sagte: „Ich habe nur geflucht, weil dieser Kondomautomat mein Geld geschluckt hat, ohne was auszuspucken.“ Er deutete auf das unschuldige Gerät.

„Muss dann auch mal ohne gehen“, sagte der Muggel und wandte sich wieder zum Waschbecken um.

‚So ein Dummkopf‘, dachte Sophus. ‚Ahnt der überhaupt, was man sich alles einfangen kann.‘

Dann zermarterte er sich den Kopf über den richtigen Zauber. Er war in der Schule keine große Leuchte gewesen, aber er sollte doch wohl in der Lage sein ein Waschbecken in einen Wasserspeier zu verwandeln, wenn er praktisch davor stand. Schließlich kam ihm die Erleuchtung.

„Geysirius!“

Das obere Ende des Wasserhahnes sprang ab, ein hoher Strahl schoss gleichzeitig aus dem jetzt offen liegenden Zulauf als auch aus dem Ablauf. Der junge Muggel war in wenigen Augenblicken nass von Kopf bis Fuß.

„Was ist denn das für eine Scheiße“, fluchte er laut.

„Tja, hier scheint wirklich alles defekt zu sein“, erwiderte Sophus lakonisch und verließ die Toilette, ehe er etwas von dem Wasser abbekam, das durch den Raum spritzte.

„Da ist etwas in der Herrentoilette kaputt“, meldete er am Bartresen. Er wollte die Bar nicht unter Wasser setzen, am Ende musste die vorzeitig schließen, so dass er keine Chance mehr bekam, seine Auserwählte zu erobern.

Nass wie der sprichwörtliche Pudel flüchtete sich nach ihm der junge Muggel aus dem Refugium. Als die junge Frau, die Sophus als seine Traumfrau bezeichnete, aufsah und ihn erblickte, brach sie in schallendes Gelächter aus.

„Was ist denn mit dir passiert?“, hörte er sie laut ausrufen.

„Der Wasserhahn ist regelrecht explodiert“, bekam sie zur Antwort. „So was habe ich noch nicht erlebt.“ Der junge Mann sah an seiner tropfenden Gestalt hinab. „Ich glaube, ich muss nach Hause.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern.

„Ich bleibe noch ein bisschen. Der Abend ist ja noch jung.“

„Oh, ich dachte, du würdest mich begleiten. Wir könnten auch bei mir zu Hause einen schönen Abend haben.“

Die junge Frau lachte wieder.

„Du bist offenbar noch nicht ganz trocken hinter den Ohren“, sagte sie. „Geh nur, vielleicht sehen wir uns mal wieder. Dann kann ja was aus uns werden. Heute nicht mehr.“

Der junge Mann ließ den Kopf hängen und zog, eine feuchte Spur hinterlassend, ab. Er tat Sophus plötzlich leid, aber dieser Moment verging und er dachte daran, dass er die Chance jetzt nutzen musste, die er sich selbst geschaffen hatte.

Er wartete einige Minuten ab, in denen er seine Auserwählte beobachtete, die allein an dem Tisch zurückgeblieben war, hin und wieder an ihrem Cocktail nippte und den Paaren auf der Tanzfläche zusah. Als er meinte, es sei genug Zeit verstrichen, die Gefahr, dass ein anderer Mann auf die Dame aufmerksam wurde und versuchte, sich an sie heranzumachen, war inzwischen immer größer geworden, stand Sophus auf, ging zu dem Tisch hinüber, verbeugte sich förmlicher als heutzutage gemeinhin üblich und fragte: „Wollen wir unsere Einsamkeit gemeinsam verbringen?“

Die Frau, die bis eben versonnen in ihr Glas gestarrt hatte, blickte auf. „Wie bitte?“

„Sie sind allein, ich bin allein. Es wäre doch viel besser zu zweit zu sein.“

„Klingt wie ein Schlagertext. Aber Sie dürfen sich trotzdem setzen.“

„Danke.“ Sophus nahm Platz. Dann winkte er nach dem Kellner. „Ich würde Sie gern zu einem Drink einladen, wenn es gestattet ist.“

Die Frau zeigte ihr halbvolles Glas vor. „Ich bin eigentlich versorgt. Vielleicht einfach ein Wasser, wenn es unbedingt sein muss. Das Zeug hier ist doch reichlich süß.“

„Wasser ist okay.“ Sophus bestellte ein Bier für sich selbst und der Dame ein Wasser.

„Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?“, fragte Sophus sehr direkt, nachdem sich der Kellner abgewandt hatte.

„Nein, ehrlich gesagt nicht.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe Sie hier zu diesem Tisch gehen sehen, und mir gesagt: Da geht deine Traumfrau.“

Sie lächelte versonnen. „Das sagen Sie an jedem Wochenende zu einer Anderen, oder?“

„Nein, nur einmal im Monat.“

„Okay, das glaube ich ihnen sofort.“ Plötzlich schien es, als zöge ein Schatten über ihr Gesicht. Die Augen blickten ernst, beinahe traurig. „Aber es ist auch egal. Meine Kollegen haben gesagt, ich müsse mal rauskommen und Spaß haben, und dazu bin ich fest entschlossen.“

Sophus sah sein Gegenüber interessiert an. „Darf ich fragen, wo Sie arbeiten?“

„Ich bin Hei… Ärztin.“

„Haiärztin? Es gibt tatsächlich Ärzte nur für diese Raubfische? Ist das nicht ein sehr enges Fachgebiet?“ Sophus staunte.

„Nein, ich bin Ärztin und zusätzlich als Heilpraktikerin tätig, wollte ich sagen. Und was machen Sie so?“

„Ich arbeite als Besenbinder.“ Bei dieser Frau wollte Sophus nicht seine Legende vom Automechaniker anbringen. Er wusste selbst nicht so recht warum, sie war einfach nicht die Frau, die man beschwindelte.

Sie machte nur große Augen und sagte gar nichts. Ihr Blick war Frage genug.

„Ja, ich mache Reisigbesen. Die werden dann auf Märkten verkauft. Touristen kaufen viel. Wir sind im Harz - Hexentanzplatz, Blocken und so, da ist ein Reisigbesen ein beliebtes Mitbringsel. Wir fertigen die in allen Größen - für Kinder, für Erwachsene, aber auch für Puppen.“

„Fliegen die auch?“, fragte die Frau und grinste.

„Die Frage ist nun wirklich nicht mehr originell, seit den Mem… Büchern über Harry Potter.“ Sophus schaute aufmerksam, ob der Frau sein Lapsus aufgefallen war. Beinahe hätte er Memoiren gesagt. Aber die schaute nur versonnen auf die Tanzfläche und tippte mit der Rechten einen Takt auf dem Tisch.

Der Kellner trat an den Tisch und stellte ein Bier vor Sophus und ein Wasser vor der jungen Frau ab. Während diese kurz in das Gesicht des Servierenden blickte, förderte Sophus eine seiner Phiolen aus der Tasche und öffnete sie geschickt mit einer Hand. Dies hatte er daheim genauso oft geübt wie einige Schwünge mit dem Zauberstab. Er beherrschte es praktisch im Schlaf.

„Möchten Sie tanzen?“

„Gern, aber nur, wenn wir dieses grässliche ‚Sie‘ sein lassen können. Ich heiße Lyra und - du?“ Sie ließ vor der vertraulichen Anrede eine deutliche Pause.

„Sophus“, erwiderte dieser. „Wir haben beide keine Durchschnittsnamen abbekommen, wir mir scheint.“

„Ich bin im Norden von Schottland geboren“, sagte Lyra sich erhebend. „Meine Eltern sind nach Deutschland gekommen, als ich ganz klein war. Ich kann mich an das Hochland gar nicht mehr erinnern.“

Lyra erhob sich, Sophus stand ebenfalls auf. Als Lyra am Tisch vorbeiging, nutzte er die Gelegenheit, die Hand, die die Phiole verbarg, über das Cocktailglas zu führen. Ein paar Tropfen fielen hinein, ein paar zusätzliche Gasblasen stiegen auf, doch der Effekt war kurz, und wäre nur jemandem aufgefallen, der konzentriert das Glas beobachtete. Ein solcher Jemand war nicht in der Nähe.

Sie traten auf die Tanzfläche. Schon bei den ersten Schritten fiel Sophus auf, wie sanft und leichtfüßig sich seine Partnerin bewegte. Es schien fast, als berührten ihre Füße den Boden nicht. Sie war eins mit dem Rhythmus der Musik. Er bemerkte die neidischen Blicke einiger Männer.

„Du hast gesagt, da wo du arbeitest, sind alle jungen Männer schon vergeben. Arbeitest du im Krankenhaus?“

„Ja, aber nicht direkt in Wernigerode.“

„Ach, wo dann?“

„Außerhalb.“ Mehr wollte Lyra offenbar nicht preisgeben.

„Ich arbeite in Hasserode. Ist ein kleiner Meisterbetrieb.“ Das stimmte. Es war genauso wahr, dass sie zur Tarnung neben den Flugbesen solche für Touristen fertigten. Neulich erst hätte einer der Lehrlinge beinahe einen reparierten Flugbesen zu einem Markt auf dem Hexentanzplatz geschickt. Sophus hatte den Fehler im letzten Augenblick bemerkt. Nicht auszudenken, wenn irgendein Muggel den Besen gekauft hätte.

„Schwer vorzustellen, dass man mit Reisigbesen heutzutage genug verdienen kann.“

„Seit den Rowling-Büchern gab es einen regelrechten Boom.“ Als er das Pseudonym von Minerva McGonagall erwähnte, wunderte er sich einmal mehr, wie erfolgreich das Buch gewesen war.

„Haben eure Besen auch so tolle Namen wie ‚Nimbus 2000‘?“, wollte Lyra wissen.

Sophus lachte. „Nein. Die heißen einfach Besen.“

„Glaubst du an so was?“

„Woran?“

„An Zauberei? Glaubst du, es gibt Leute, die so etwas können – auf Besen fliegen, Zaubertränke brauen, durch Kamine reisen, mit – wie heißt das – Mückenpulver?“

„Flohpulver“, verbesserte Sophus, verschluckte sich und beeilte sich, anschließend zu sagen: „Nein, nein, natürlich nicht.“

„Ist doch seltsam, oder?“

„Was ist seltsam?“

„Dass wir nicht an so etwas glauben können. Dabei wissen die meisten Menschen nicht, wieso Flugzeuge fliegen oder wie die Mikrowelle funktioniert. Das könnte für sie ebenso gut Zauberei sein.“

„Irgendein kluger M… Mann hat mal gesagt, dass Wissenschaft nicht von Zauberei zu unterscheiden ist, oder so ähnlich.“

„Jede genügend hochentwickelte Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“

Sophus nickte. Genau diesen bedeutungsschweren Satz hatte er mal in irgendeiner Muggelzeitschrift gelesen.

„Ich würde gern an Magie glauben“, sagte Lyra.

„Aber du bist Ärztin.“ Sophus staunte. Mit Ärzten verband er eine Aura der strengen Wissenschaftlichkeit. Viele Ärzte waren schon von Heilpraktikern nicht begeistert. Solange sie nicht sicher wussten, warum etwas heilte, wandten sie es nicht an. Inzwischen waren Akkupunktur und Homöopathie zwar durchaus gelitten, aber man beäugte diejenigen, die sie praktizierten, argwöhnisch.

Und nun sprach ausgerechnet eine Muggelfrau, die darüber hinaus Ärztin war, seine eigenen geheimen Gedanken aus. Sophus hatte sich oft über die seltsame Einstellung der Muggel gewundert, die einerseits Bühnenzauberer bewunderten, und Bücher über alle möglichen magischen Wesen und Welten verschlangen, echter Magie aber nicht einfach skeptisch, sondern mit missionarischem Eifer entgegentraten.

Dabei wussten sie genau, dass man zwei Gase zusammenbringen konnte, so dass diese mit lautem Knall zu einer Flüssigkeit wurden, die unter bestimmten Bedingungen nicht nur hart wie Stein war, sondern sogar Felsen sprengen konnte. Sie kannten die Fähigkeiten vieler Pflanzen und anderer Stoffe, im Körper Reaktionen, gute und schlechte, auszulösen, ja, sie mischten sogar Tränke daraus, deren Wirkung der echter Zaubertränke kaum nachstand. Sie nahmen Sand und sorgten dafür, dass dieser nicht nur in der Lage war, sich Dinge zu merken, sondern komplizierte Berechnungen ausführte, zu denen sie selbst nicht in der Lage waren. Sie sandten sich Nachrichten über weite Strecken einfach durch die Luft. Und dann wunderten sie sich über so einfache Dinge wie einen fliegenden Besen.

„Worüber lachst du?“

Sophus hatte gar nicht gemerkt, dass er seine Gedanken in ein Lachen verwandelt und so laut zum Ausdruck gebracht hatte.

„Über die M… Menschen. Wir sollten wirklich mehr an Magie glauben.“

„Vielleicht wird dies ja ein magischer Abend“, erwiderte Lyra und lächelte ihn an. Sein Herz setzte einen Takt aus, gleich darauf mit doppeltem Elan weiterschlagend.

Sie tanzten eine Weile weiter und kehrten dann an den Tisch zurück.

„Ich muss mal kurz verschwinden“, sagte Lyra. „Hoffentlich ist die Damentoilette nicht auch gestört.“

„Wieso?“, fragte Sophus unschuldig.

„Na, bei euch muss es doch eine Überschwemmung gegeben haben.“

„Ach? Ich war noch nicht dort.“

„Ich hätte schwören können, dich da gesehen zu haben, als der junge Mann nass von oben bis unten zurückkam, der sich vor dir um mich bemüht hat.“

Sophus schüttelte nur den Kopf.

„Na, egal.“ Lyra nahm ihre Handtasche und ging in Richtung Toiletten davon. 

Sophus fragte sich, ob es richtig gewesen war, einen Liebestrank in Lyras Getränk zu schütten. Es kam ihm inzwischen beinahe wie Verrat vor. Sie war wunderschön, sie war nett, sie war vermutlich klug und sie teilte Gedanken, die er schon lange in seinem Kopf gewälzt hatte, aber so nicht auszusprechen in der Lage gewesen war. Noch war nichts geschehen, Lyra hatte nicht wieder von ihrem Cocktail getrunken. Er konnte einfach gegen das Glas stoßen, es umwerfen und dafür sorgen, dass der Trank auf dem Tisch statt in ihrem Blutkreislauf landete.

Er beruhigte sich mit der Tatsache, dass es Eroteria war und nicht Liquidosa Vagis. Dieser Trank war einer, der tatsächlich Hingabe und nicht pure Gier erzeugte. In einigen Büchern wurde er als Vorstufe zu Amortentia bezeichnet – DEM Liebestrank an sich. Der war natürlich etwas für Experten. Ja, er war im Brauen von Tränken nicht schlecht, aber er nahm an, wenn er sich an diesem versuchte, wäre nur eine stinkende Brühe und ein verschmorter Kessel die Folge.

Letzteres konnte er sich bei seinem Verdienst wahrhaftig nicht leisten. Er hatte ohnehin nur einen alten von Schwarzschmied & Söhne, obwohl alle Welt wie verrückt nach den Kesseln von Liberman war. Man sah kaum einen Zauberer in einem anderen rühren, als in einem von diesen mit einer Kirsche geschmückten Dingern. Liberman-Fans apparierten bereits am Vorabend der Auslieferung des neuesten Modells vor den Geschäften, um auf jeden Fall eines der begehrten Objekte zu bekommen. Sophus hatte sich schon oft gefragt, ob diese Kessel tatsächlich so gut waren, wie man es immer in die Ohren geblasen bekam, wenn man sich die neusten Nachrichten der Magie ansah.

Sein Meister in der Besenbinderei hatte ihm erzählt, einer seiner Freunde habe sich einen Liberman-Kessel zugelegt und musste danach erst einmal die Hälfte seiner Zutaten wegwerfen. Der Kessel warf bestimmte Ingredienzien einfach wieder aus, wenn sie nicht direkt in einem Liberman-Laden gekauft worden waren. Und natürlich benötigte man für so ein Ding ein spezielles Rührholz, eine besondere Aufhängung und das Feuer unter dem Kessel musste ebenfalls extra eingerichtet werden. Alles in allem, fand Sophus, war es das Geld nicht wert, was er für so ein Meisterstück der Kesselmacherei hätte ausgeben müssen. Seine Tränke waren auch ohne automatisches Linksrühren und selbständige Zutatenbestellung wirksam genug. Außerdem missfiel ihm die direkte Kopplung an das Flohnetzwerk. Er konnte sich nicht vorstellen, welchen Sinn es hatte, wenn die Mitarbeiter von Liberman ihm praktisch direkt in den Kessel gucken konnten, während er zum Beispiel einen seiner Liebestränke braute.

Als Sophus mit seinen Gedanken an diesem Punkt ankam, wurde ihm klar, dass er rasch zu einer Entscheidung kommen musste, was die Anwendung des Trankes betraf, den er bei sich trug. Lyra konnte jeden Augenblick aus der Tür mit der stilisierten Frau drauf treten. Sie war ohnehin schon eine ganze Weile verschwunden. Wahrscheinlich standen die Damen wieder einmal Schlange.

Sophus blickte auf das Cocktailglas. Unschuldig stand es dort. Wie mochte dieser Drink heißen? Er hatte Lyra nicht nach ihrer Wahl gefragt. Vielleicht sollte er das nachholen, überlegte er und blickte auf.

Er musste den Moment verpasst haben, als sie das gewisse Örtchen verlassen hatte. Schließlich konnte sie nicht neben der Bar appariert sein.

„Tut mir leid, dass du so lange warten musstest“, sagte sie.

„Was muss, das muss“, erwiderte Sophus. „Jetzt bist du mir aber einen Tanz schuldig.“

Wenn sie nur ausgiebig tanzten, würde Lyra bestimmt warm werden und Durst verspüren, dachte er sich.

„Aber gern.“ Sie sprang wie von der Feder geschnellt auf, baute sich neben seinem Platz auf und zog an seiner Hand, bevor er sich ganz erhoben hatte. Dann griff sie sich ihr Wasserglas, um einen großen Schluck zu nehmen.

„Noch einen auf den Weg“, sagte sie.

Während sie tanzten, erzählte Lyra von ihren ausgiebigen Wanderungen. Sie war offenbar in jeder freien Minute in der Natur und kraxelte in den Hohneklippen und auf dem Brocken herum. Sophus musste schmunzeln, denn er kannte die Gegend ausgezeichnet, schließlich war er dort zum Zauberer ausgebildet worden. Für Muggel war die Schule natürlich nur ein merkwürdig geformter Fels.

„Einmal“, so sagte sie, „habe ich eine echte Wildkatze gesehen. Jedenfalls glaube ich, dass es eine war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da oben Hauskatzen herumstreunen.“

„Davon, dass es im Harz selbst heute noch Wildkatzen gibt, habe ich schon gelesen“, sagte Sophus.

Er hatte sogar eine in seinem Zimmer in der Schule gehabt. Die war in der Nacht zum Fenster hereingeklettert und wollte sich gar nicht wieder vertreiben lassen. Das war im Winter gewesen, es hatte gestürmt und den Schnee meterhoch an der Schulmauer aufgetürmt. Kein Wunder das die Katze die Wärme des Zimmers, das er mit drei anderen Jungs teilte, vorzog.

Nach ein paar Tanzrunden machte der DJ eine Pause und Sophus kehrte mit Lyra an den Tisch zurück. Sie nahm ohne zu zögern ihr Cocktailglas, setzte es an und leerte es in einem Zug.

„Das war jetzt nötig“, sagte sie. „Hier ist es aber auch ziemlich warm.“

Sophus nickte. Er war auf der Tanzfläche ebenfalls ins Schwitzen gekommen. Er griff nach seinem Glas, nur um festzustellen, dass es leer war. Hatte er tatsächlich ausgetrunken? Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern.

„Willst du einen Schluck Wasser? Du verdurstest mir sonst, ehe der Kellner Nachschub bringt.“ Lyra schob ihr Glas zu ihm hinüber.

Das Wasser sah verlockend aus. So hell und klar, ein paar Gasbläschen mühten sich zu Oberfläche. Sophus leckte über seine trockenen Lippen und entschied, nicht erst auf ein neues Bier warten zu wollen. Angesichts dessen, was er für sich und Lyra im Verlauf der Nacht geplant hatte, war die gemeinsame Nutzung eines Glases kein Problem. Außerdem hatte er Durst, großen Durst.

Er griff nach dem Glas und nahm einen Schluck. Als er es wieder niedersetzte, nahm er einen angenehmen Duft wahr. Es roch nach Äpfeln und trockenem Holz. Wahrscheinlich war da jemand mit einem besonderen Parfüm gerade hinter ihm vorbeigegangen. Er wandte den Kopf. Er wollte fragen, wie dieser neue Duft hieß. Das hätte sein Lieblingsparfüm werden können. Aber da war niemand.

„Was ist los?“, fragte Lyra. „Du schaust aus, als wäre gerade ein Gespenst durch den Raum geschwebt.“

„Ich dachte nur, jemand wäre gerade hinter meinem Platz herumgelaufen.“

„Ein Kellner?“

„Weiß nicht. Roch aber gut. Na egal.“

Sophus sagte sich zum wiederholten Male an diesem Abend, dass er nie zuvor eine so gut aussehende Frau wie diese Lyra gesehen hatte. Die Farbe ihrer Haut erinnerte ihn tatsächlich an helle Schokolade. Er fragte sich, ob sie auch so zart auf der Zunge wäre.

Ihre Augen, stellte er fest, waren grün. Das fand er seltsam. Noch nie hatte er von einer dunkelhäutigen Person mit grünen Augen gehört. Aber er fand das sinnlich. Es waren die Augen einer Katze. Sie würde schnurren, wenn er sie liebte, seinen Rücken zerkratzen, wenn ihre Lust den Höhepunkt erreichte. Das war egal, so lang er sie nur lieben durfte. Er fragte sich, ob sein Trank schon Wirkung zeigte. Er musste es wissen.

„Was machen wir mit dem angebrochenen Abend?“, fragte er. Seine Stimme war ein wenig kratzig. Seine Kehle war trocken, er sollte besser einen weiteren Schluck trinken.

„Was schlägst du denn vor?“

„Jedenfalls keine Wanderung“, sagte Sophus heiser. Er blickte seinem Gegenüber tief in die Augen, Augen wie Bergseen, man konnte darin ertrinken.

„Du könntest mich nach Hause bringen, wenn du möchtest.“

„Ja, das gefällt mir schon besser.“ Seine Stimme wurde wieder fester.

„Aber keine Dummheiten machen.“ Lyra drohte mit dem Finger. „Wir kennen uns noch nicht gut genug.“

„Kein Gutenacht-Kuss?“

„Mal sehen.“ Lyra lächelte. Ihre vollen Lippen formten einen perfekten Bogen. Sie waren Verlockung und Versprechen. Sophus seufzte.

„Was hast du?“ Plötzlich war da der Blick der Ärztin, die einen Patienten bei der Untersuchung in Augenschein nimmt, um die richtige Diagnose stellen zu können.

„Ich muss mich tatsächlich verliebt haben“, gestand Sophus, ohne lange darüber nachzudenken.

Lyra sah ihn lediglich mit wissenschaftlichem Interesse an. „Aha“, sagte sie dann.

Sophus erstaunte die Kühle der Reaktion. Er fragte sich, ob irgendetwas mit seinem Zaubertrank nicht stimmte. Inzwischen hätte sein Gegenüber ihn anschmachten und zu jeder gemeinsamen Schandtat mit ihm bereit sein sollen.

„Gehen wir?“, fragte er und wollte aufstehen.

„Ich glaube, wenn wir jetzt einfach gehen, hetzt der Kellner uns die Polizei auf den Hals. Wir sollten erst bezahlen.“

„Meine Güte, das hätte ich fast vergessen.“ Das stimmte. Die Vorfreude auf die gemeinsame Nacht mit Lyra vernebelte ihm wohl die Sinne.

Sophus winkte dem Kellner und verlangte sie Rechnung. Es erschien ihm, als ließe sich dieser eine Ewigkeit Zeit, eher er endlich wieder an den Tisch trat. Ungeduldig rutschte er mit dem Hintern auf seinem Stuhl herum.

Lyra hatte die Arme auf den Tisch gestützt, ihr Kinn ruhte auf ihren Handballen. So blickte sie ihr Gegenüber mit leicht schräggelegtem Kopf an.

„Wo steht dein Wagen?“, fragte sie, nachdem Sophus bezahlt hatte.

„Äh.“ Sophus wusste nicht, was er sagen sollte. Er besaß kein Auto. Er apparierte oder nutzte das Flohnetzwerk. Daran hatte er gar nicht gedacht. Sonst war die Wirkung seiner Tränke meist stark genug, um so belanglose Fragen zu unterdrücken. Die Frauen ergaben sich seinen starken Armen auf einer Bank im Wald oder mitten auf einer Wiese oder zerrten ihn in ihr Auto, mit dem sie dann aber nicht erst irgendwohin fuhren.

Lyra wartete noch immer auf eine Antwort.

„Ich bin zu Fuß hier. Ich wohne nur zwei Querstraßen weiter.“ Das war gelogen. Er wohnte am anderen Ende von Wernigerode. Wenn Lyra plötzlich von ihrem ursprünglichen Plan abwich, dass er sie nach Hause begleiten sollte, und nun stattdessen meinte, ihn heimzuchauffieren, stand er ziemlich blöde da.

„Ich dachte, du würdest mich nach Hause bringen. Ich habe nämlich keinen fahrbaren Untersatz.“ Diese Variante war nicht besser. Sophus hoffte inständig, der Trank schlüge doch noch an. Was war da nur schiefgegangen? Er guckte konsterniert.

Plötzlich lachte Lyra. „Du siehst drollig aus. Wie ein Hund, dem man seinen Spielzeugknochen weggenommen hat. Ist doch nicht so schlimm, wenn keiner von uns ein Auto hat, gehen wir eben zu Fuß. Zu dir ist es näher, wenn ich dich recht verstanden habe?“

Sophus fluchte im Stillen, aber er hatte keine andere Wahl, er musste nicken.

„Also, auf geht’ s. Die Frage ‚Zu dir oder zu mir?‘ können wir uns sparen.“ Mit diesen Worten erhob sie sich von ihrem Platz und trat um den Tisch herum.

Sophus nahm das Wasserglas einmal mehr zur Hand und trank den letzten Schluck, der darin war. Die Geste wirkte, als wolle er sich Mut für einen schweren Gang antrinken. Lyra kicherte erneut. Es klang ein wenig albern, was Sophus Hoffnung machte, sein Liebeszauber begänne am Ende doch zu wirken. Vielleicht ging es ja jeden Augenblick los, dann fiele sie ihm spontan um den Hals und zerrte ihn ins nächstliegende Gebüsch.

Sie traten an die frische Luft. Lyra hakte sich bei ihm ein und lächelte ihn von der Seite an. Er spürte den sanften Druck ihres Körpers an seinem Arm. Der Duft, der von ihr ausging, war betörend. Sophus hätte nicht zu sagen gewusst, zu welchen Blumen er gehörte, doch daran, dass es ein Blütenduft war, bestand für ihn kein Zweifel.

Nach zwei Schritten blieb er einfach stehen, wandte sich nach ihr um und legte seine Arme um sie.

„Nicht so stürmisch.“ Eine Falte zeigte sich auf ihrer schönen Stirn, teilweise von einer kecken Locke verborgen. „Gutenacht-Küsse gibt es immer erst an der Haustür.“

„Ich … ich liebe dich“, stammelte Sophus. „Ich will nicht ohne dich leben.“ Was redete er da? „Zumindest will ich diese Nacht nicht ohne dich verbringen.“ Er konnte nicht anders, er musste die Wahrheit sagen.

„Armer Mann“, sagte Lyra in neckendem Ton. „Das wirst du aber müssen, denn ich muss morgen wieder zeitig aufstehen und arbeiten. Ich kann nicht die ganze Nacht mit dir verbringen. Ich bin sicher, wir würden beide keinen Schlaf finden.“

„Ja, das denke ich auch – eigentlich ist das meine Hoffnung.“

„Na, zumindest erzählst du keinen Schmus. Komm, zeig mir erst einmal, wo du wohnst, dann sehen wir weiter.“

Sophus fragte sich erneut, wie er in so eine Lage geraten war. Sonst hatte es immer so wunderbar funktioniert. War diese Muggelfrau aus unerfindlichen Gründen immun gegen Zaubertränke? Hing das vielleicht mit ihrer Arbeit als Ärztin zusammen?

Sophus ließ Lyra los, sie nahm einfach nur seine Hand und so liefen gemeinsam die Straße entlang. Er war in Gedanken versunken. Die Idee, auf die Querstraßen zu achten, die sie passierten, kam ihm nicht, bis Lyra plötzlich einfach stehen blieb.

„Sagtest du nicht, du wohnst nur zwei Querstraßen weiter?“, fragte sie.

„Ja, da links runter“, sagte Sophus und zeigte nach rechts.

„Das ist rechts“, wurde er sofort verbessert.

„Ja, natürlich, tut mir leid. Das verwechsle ich gern mal.“ Er fühlte die Verwirrung mit jeder Minute an der Seite dieser Frau wachsen. Er wollte sie aus tiefstem Herzen, ganz und gar, und sofort war eigentlich schon zu spät.

Sie lenkten ihre Schritte nach rechts und Sophus schaute jetzt aufmerksam die Fassaden an. Eines dieser Häuser musste er als seine Heimstatt ausgeben. Eigentlich war es ganz egal welches, denn er wohnte in keinem, und so würde er Lyra tatsächlich nur die Hand reichen, gute Nacht wünschen und sie nie mehr wiedersehen. Es war zum Heulen.

Vor einer hübschen dreigeschossigen Villa mit beeindruckendem Vorgarten blieb er stehen.

„Hier ist es“, sagte er.

„Beachtlich. So etwas kann man sich leisten, wenn man Reisigbesen macht?“ Die Frage klang skeptisch.

„Ich wohne unter dem Dach. Schräge Wände in allen Zimmern. In den ersten Wochen habe ich mir täglich den Kopf angestoßen. Außerdem ist es nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung.“ Dies war insofern eine Halbwahrheit, als er tatsächlich eine Mansardenwohnung mit zwei Zimmern bewohnte, bloß war die nicht in diesem Haus zu finden.

„Das heißt, wir müssen eng zusammenrücken“, sagte Lyra.

Nein, das durfte nicht wahr sein. Jetzt wollte sie tatsächlich mit raufkommen. Aber das ging nicht. Sophus wollte schreien.

„Tut mir leid“, sagte er stattdessen, „aber heute nicht mehr.“

Lyra sah ihn eher interessiert als verblüfft an. So schaute sie im Krankenhaus wahrscheinlich auf einen Patienten, der ihr ganz überraschende Symptome schilderte. Dann lächelte sie und sagte: „Gut, dann gib mir einen Kuss und ich bin schon weg.“

Als sie sich küssten, glaubte Sophus, die ganze Welt löse sich unter seinen Füßen auf. Er entschwebte mit Lyra in einen anderen Raum, in eine andere. Ohne Besen hob es ihn in die Lüfte und er tanzte dort wie das Schirmchen eines Löwenzahns. Er konnte sich nicht vorstellen, weiterleben zu können, wenn sie die Lippen voneinander lösten.

Dann trat Lyra einen Schritt zurück und Sophus landete hart. Er riss die Augen auf, starrte sie an, sein Mund öffnete sich, er wollte etwas sagen, aber kein Ton entschlüpfte seiner Kehle. Um den Kloß dort herauszubekommen, räusperte er sich.

„Bleib“, sagte er, erst danach wurde ihm wieder bewusst, dass sie keineswegs vor seinem Haus standen, sondern in irgendeiner Straße Wernigerodes, die er nie zuvor gesehen hatte.

„Besser nicht“, sagte Lyra. „Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“

„Aber …“, Sophus stammelte. „aber … ich … ich liebe dich.“

Lyra, die sich bereits abgewandt und zwei, drei Schritte entfernt hatte, drehte sich noch einmal um, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, so schnell geht das nicht.“ Dann eilte sie davon.

Sophus blieb an dem fremden Gartentor zurück, starrte ihr mit brennenden Augen nach und atmete nach wie vor schwer nach dem atemberaubenden Kuss. Erst als sie um die Straßenecke verschwunden war, gelang es ihm, sich wieder zu bewegen. Mit den müden Schritten eines alten Mannes machte er sich auf den Weg in Richtung auf seine heimatliche Wohnung.

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